Wie treue Leser der Comic-Denkblase wissen, bin ich großer Fan von Marc-Antoine Mathieu. Der Franzose experimentiert mit dem Medium, lotet die Grenzen aus und verschiebt Perspektiven. In diesem Fall aber geht es gar nicht um Mathieu, sondern um seinen Landsmann Luz. Der verschiebt Perspektiven auch. Und so betrachten nicht wir in seinem aktuellen Buch ein Kunstwerk, sondern das Kunstwerk betrachtet für uns die Welt. Eine spannende Idee, die wieder einmal zeigt, welche Möglichkeiten der Comic bietet: Zwei weibliche Halbakte.

© 2025 Reprodukt für die deutsche Ausgabe
Das Bild entsteht erst nach und nach – Pinselstrich für Pinselstrich. Auf der ersten Seite lesen wir nur eine Jahreszahl – 1919. Und ein paar Sprechblasen. Künstler Otto Müller unterhält sich mit seinem Modell, seiner Frau Maria „Maschka“ Mayerhofer. Nach und nach sehen wir mehr von der Welt. Doch sehen wir nicht das, was der Künstler malt, sondern wir sehen ihn, wie er arbeitet. Mit jedem Griff zum Pinsel wird der Blick auf die Welt konkreter.
Neue Perspektive
Als Leser des Comics brauchen wir einen Moment, um zu verstehen, dass die Perspektive gewechselt wurde. Erst als Maler und Modell prüfend vor der Leinwand stehen und das Werk begutachten, erschließt sich der Clou. Der sich im Übrigen durch den gesamten Comic zieht. Und so verfolgen wir die wechselhafte Geschichte des berühmten Gemäldes mit einem zwar eingeschränkten, aber hoch spannenden Blick.

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„Zwei weibliche Halbakte ist kein Buch über zwei halbnackte Mädchen“, schreibt Rita Kersting, die stellvertretende Direktorin des Museums Ludwig in Köln, in dem das Werk zu besichtigen ist. Es ist ein Buch „über ein Kunstwerk, dessen Reise durch Orte und Zeiten uns viel verrät über die Kraft der Kunst, über ihren wechselnden, aber auch anhaltenden Wert, über ihre politische Unterdrückung und über die Zuneigung und Rührung, die sie auslösen kann.“
Eine Reise durch Zeit und Ort
Die Reise des Bildes ist bemerkenswert. Es durchlebt die Zeit des Nationalsozialismus, ist Teil der Ausstellung Entartete Kunst, soll erst versteigert, dann zerstört werden und wird schließlich gerettet. Nach Kriegsende wird es dann an die Stadt Köln verschenkt, gelangt ins Wallraff-Richartz-Museum und schließlich ins Museum Ludwig. Wo man spät feststellt, dass es eigentlich dem jüdischen Sammler Ismar Littmann gehörte. An dessen Tochter Ruth wird das Bild schließlich 1999 restituiert.

Auch für Zeichner Luz hat das Bild eine besondere Bedeutung. Wie das Kunstwerk ist auch er ein Überlebender. Als Teil der Zeitschrift Charlie Hebdo hat er den Anschlag im Jahr 2015 nur deshalb körperlich unbeschadet überstanden, weil er die morgendliche Redaktionssitzung verschlafen hat. Seitdem aber ist er nicht mehr in der Lage, als Karikaturist zu arbeiten, der sich täglich mit dem politischen Leben auseinandersetzt. Seinen Ausweg als Künstler hat er in der Hinwendung zur Graphic Novel gefunden.
Sich selbst neu erfinden
Zeichnerisch bleibt Luz konsequent. Wenn das Bild auf dem Boden steht, ist die gezeigte Szene untersichtig. Wenn es verpackt wird, ist unser Blick verdeckt. Am Ende sehen wir in einen leeren Museumsraum und entdecken andere Kunstwerke an den gegenüberliegenden Wänden. Und wenn das Bild leben würde, könnten wir die Einsamkeit spüren und die Fülle der Eindrücke, die das Kunstwerk in den vergangenen 96 Jahren aufgesaugt haben muss. Zwei weibliche Halbakte ist ein leiser Comic, aber einer der lange nachhallen wird.

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5 von 5 Comic-Denkblasen
Angaben zum Buch: Zwei weibliche Halbakte. Text/Zeichnungen: Luz. Aus dem Französischen von Lilian Pithan. HC, Farbe. 192 Seiten. Reprodukt. 29 Euro.

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