Der ehemalige Feuilleton-Chef der Neuen Zürcher Zeitung, Martin Meyer, hat ein interessantes und ungewöhnliches Buch geschrieben. Anhand von 33 ausgewählten Szenen aus Tim und Struppi entwickelt er alltagsphilosophische und gesellschaftliche Überlegungen. Die Kapitel heißen Himmelsgucker oder Inflation, Geduld bringt Rosen oder Erdvertrauen. Mit dem Buch liefert Meyer einen Ansatz, der vielen Leser*innen sicherlich einen ganz neuen Blick auf die Welt von Hergé eröffnet. Auch ausgewiesene Tintologen dürften so eine Herangehensweise noch nicht gelesen haben: „Menschenkunde“ mit Tim und Struppi.

(Alex Jakubowski) Lieber Herr Meyer, Sie haben gerade eine kleine philosophische Abhandlung geschrieben, die ihren Ausgangspunkt in Bildern aus Tim und Struppi hat. Können Sie uns erklären, wie Sie auf die Idee dazu gekommen sind?
(Martin Meyer) Tim und Struppi haben meine Kindheit enorm geprägt. Es ist wirklich so. Später verstand ich, dass Hergé ein Homer des 20. Jahrhunderts ist. An einem heißen Sommertag in Südfrankreich kam mir die Idee: Einzelne Bilder aus den Alben aufzuspüren, die für mich die „Condition humaine“ zum Ausdruck bringen. Also all das, mit dem wir zu tun haben, das uns widerfährt oder das wir provozieren: Glück im Unglück, Geduld, Schlaflosigkeit, Zerstreutheit, Eigentum, Bühnenpech, Weltuntergang, Treue und so weiter. Die Vignetten wurden so zum Ausgangspunkt für meine Gedanken im Sinne einer Philosophie des Alltags. Und eine These wurde mir dabei immer fasslicher. Sie lautet: Leben ist die Überwindung von Widerstand. Das zeigen auch Tim und Struppi ständig auf exemplarische Weise. Daraus ist zu lernen.
Warum sind Sie gerade bei Tim und Struppi darauf gekommen, nicht etwa bei Asterix oder einer anderen Reihe?
Ich liebe Hergés sogenannte ligne claire, also die sehr klare Führung der Linien wie auch der Bild- und Textführung. Sodann sind Tim und Struppis Abenteuer direkt aus dem mehr oder weniger normalen Leben gezogen. Wir erkennen uns dauernd wieder. Der Umweg über die Gallier und die Römer hätte mich da weniger fasziniert, aber das ist sicher Geschmackssache.

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Wie sind Sie bei der Auswahl der Bilder vorgegangen?
Ich wollte möglichst prägnante Bilder finden, die darstellen, was im oben beschriebenen Sinn als archetypisch gelten kann. Hergé hat über 15.000 Bilder resp. Vignetten geschaffen. Es war nicht ganz einfach, eine Auswahl zu treffen, die situationsgerecht zeigt, worum es mir geht. Und natürlich gibt es ikonische Bilder wie jenes der Mondrakete, die soeben auf dem Mond gelandet ist, oder auch die kurze Sequenz, in der Tim den Sternenhimmel bewundert, während ihm Struppi empfiehlt, auf den Boden zu schauen, und dabei selbst in einen Laternenpfahl prallt. Das ist bereits große Philosophie, wenn man nur ein wenig nachdenkt.
Ein Beispiel: Tim entdeckt einen Sack mit Bündeln voller Geld. Sein Ausspruch: „Lauter Banknoten!!“ – Das hat Sie dazu inspiriert, einen Text über Inflation zu schreiben. Irgendwie schräg, oder?
Na ja. Wir erleben doch dauernd, wie Notenbanken Geld drucken, das nicht oder kaum gedeckt ist, und dabei enorme Schulden aufhäufen. Das führte schon in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts zu atemberaubender Inflation. Der Sack, den Tim findet, enthält gedrucktes Falschgeld. Also liegt die Analogie so ziemlich auf der Hand …

An wen richtet sich Ihr Buch?
Gute Frage! An alle und besonders an jene, die Freude an Tim und Struppi haben, die grandiose Sympathieträger und starke Helden sind (das Gute siegt, die Bösen kriegen es ab), und zusammen mit mir darüber weiterphilosophieren. Die Welt ist und bleibt ein Wunder. Aber wir müssen sie deuten und versuchen, sie uns (teilweise) verständlich oder verstehbar zu machen.
Wenn Sie sich wünschen könnten, was Meschenkunde mit den Leser*innen macht – was wäre das?
Es wäre eine Art von Heiterkeit im Sinne der Befreiung vom Zwang, alles nur schwarzzumalen und todernst zu nehmen. Humor ist nämlich eine wunderbare Sache. Wir schaffen uns damit etwas Distanz gegenüber den Realitäten und ihrem Widersinn.
Und welches Bild aus Tim und Struppi würde dazu passen? 😉
Anspruchsvolle Frage! Aus meinem Buch würde ich die Abbildung 17 zitieren: Tim, Struppi und Kapitän Haddock besuchen das Theater, wo die große Sängerin Bianca Castafiore die Juwelenarie von Gounod zum Besten geben will. Doch ihr mächtiges Organ animiert Struppi, von der Loge her einen langen Heuler von sich zu geben, worauf die Sängerin perplex innehält und verstummt. Das Kapitel ist überschrieben „Störung inbegriffen“. Dieser Vorgang lässt sich auch auf viele andere ausweiten. Nach dem Motto: Erstens kommt es anders, und zweitens, als man denkt.
Angaben zum Buch: Menschenkunde. Autor: Martin Meyer. HC, Farbe, 150 Seiten. Verlag: Kein & Aber. 24 Euro.
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Ein weiteres ungewöhnliches Buch, das den Ausgangspunkt für seine Überlegungen in Comics hat, habe ich hier besprochen: Nach Strich und Rahmen