Auf dem Comic-Festival München hatte ich die Gelegenheit, ein Interview mit Charles Berberian zu führen. Der in Bagdad geborene Künstler ist Sohn einer griechischen Mutter und eines armenischen Vaters. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er im Libanon, bevor die Familie dann nach Frankreich fliehen musste. Während Berberian seine ersten Comics gemeinsam mit Philippe Dupuy gemacht hat, arbeitet er mittlerweile alleine. Seine zuletzt veröffentlichten Bücher sind autobiografisch inspiriert. In seinem neuen Buch Eine orientalische Erziehung erzählt er nun von seiner Kindheit in Beirut.

© 2025 Reprodukt für die deutsche Ausgabe
(Alex Jakubowski) Lieber Charles, warum hast Du diese Geschichte gezeichnet und warum jetzt?
(Charles Berberian) Ich wollte über meine Familiengeschichte schreiben und die Art und Weise, wie ich den Beginn des libanesischen Bürgerkriegs erlebt habe. Es gibt ein paar Zeichnungen in dem Buch, die ich vor etwa 15 Jahren gezeichnet hatte. Dann habe ich damit aufgehört, weil ich mit dem, was ich gezeichnet habe, nicht zufrieden war. Als dann COVID kam, ging für mich eine Tür auf, weil ich mich fühlte, als wäre ich wieder 15 Jahre alt.
Wir waren gezwungen, zu Hause zu bleiben. Das ganze Leben hörte mit einem Mal auf, also fing ich an zu zeichnen. Ich wusste nicht, dass es der Anfang des Buches war, aber es war für mich eine Möglichkeit, mit der Angst vor COVID umzugehen und mit der Tatsache, dass ich viel mehr Freizeit hatte, wie viele zu dieser Zeit. Wir hatten das Glück, etwas Freizeit zu haben, aber einige Freundinnen von mir saßen mit ihren Kindern zu Hause fest, und es stellte sich heraus, dass sie nicht viel Freizeit hatten. Natürlich gab es auch Tragödien, Menschen, die in Krankenhäusern festsaßen oder starben. Ich hatte das Glück, keines dieser Probleme zu haben, einfach zu Hause zu bleiben und zu zeichnen.

© Foto: Alex Jakubowski
Nach ein paar Seiten wurde mir jedenfalls klar, dass ich dieses Buch eigentlich schon vor Jahren begonnen hatte. Mein Bruder und meine Mutter waren 2017 und 2018 gestorben, und es stellte sich heraus, dass ich durch dieses Buch wieder etwas Zeit mit ihnen verbringen konnte, durch das Zeichnen. Ich habe sie quasi wieder zum Leben zu erweckt. 2021 dann wurde mein Enkel geboren, und ich dachte: Jetzt ist es an der Zeit, die Geschichte unserer Familie aufzuschreiben, damit ich sie an meinen Enkel weitergeben kann. Und ich nicht den Fehler wiederhole, den meine Großeltern gemacht haben – nämlich, mir ihre Geschichte nicht zu erzählen.

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Wieviel ist Erinnerung, wieviel ist Recherche?
Die Sache ist die, dass ich das Glück hatte, regelmäßig nach Beirut zurückzukehren. Wie ich in dem Buch sage, kam ich beim Gang durch die Straßen von Beirut in einige Teile der Stadt, wo die Erinnerungen in mir hochkamen. Das Spazieren wurde eine Art der Forschung für mich. Ich ging durch die Vergangenheit der Stadt, aber auch durch meine eigene. Das Gedächtnis ist komplex und vielfältig, und es legt sich seine eigene Art zurecht, mit der Realität umzugehen. Manches kommt der Fiktion nahe, weil wir immer Dinge dazu erfinden und Erinnerungslöcher stopfen. Aber ich habe festgestellt, dass ich noch viele Erinnerungen hatte. Ich bin mir auch sicher, dass meine Eltern mit meiner Art, mich an Dinge zu erinnern, nicht einverstanden sein würden. Aber das ist so. Man verbringt einen Abend mit ein paar Freunden und am nächsten Tag hat jeder eine andere Sichtweise davon.

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Was hat sich für Dich verändert, seitdem Du an diesem Buch gearbeitet hast?
Älter werden allein ist schon Veränderung. Zeichnen aber ist eine Möglichkeit, die Zeit anzuhalten oder in die Vergangenheit zurückzugehen. Das Lustige am Zeichnen ist, dass sich das, was Du zeichnest, von Tag zu Tag verändert. Entweder weil du nicht in der gleichen Stimmung bist, oder Du bist eine andere Person, weil Du älter wirst. Manchmal erinnert man sich an dem einen Tag an die einen Dinge und an einem anderen Tag an andere Dinge. Und dann stellt sich heraus, dass bei der Beantwortung von Fragen zu diesem Buch einige Erinnerungen zu mir zurückkommen, die ich während der Arbeit an diesem Buch gar nicht hatte. Das ist für mich wahrscheinlich der Hauptgrund, warum ich daran arbeite.
Die Arbeit an dem Buch hilft dabei, bestimmte Dinge aus der Vergangenheit zu verstehen. Genauso hilft es dabei, Dinge aus der Gegenwart zu verstehen. Es ist einfach eine Möglichkeit, mit dem umzugehen, was uns allen heute passiert. Früher habe ich mit Philippe Dupuy gemeinsam an Monsieur Jean gearbeitet, einer fiktiven Figur, die ein normales Leben geführt hat. Jetzt möchte ich aber über wahre Charaktere sprechen. Das habe ich in meinen letzten drei Büchern getan. Mir geht es inzwischen darum, mich mit Fakten auseinandersetzen und zu sehen, was die Realität uns zu sagen hat.

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Ist denn denkbar, dass Ihr wieder gemeinsam ein Album Monsieur Jean macht?
Wir haben vor 20 Jahren aufgehört, zusammenzuarbeiten. Er ist Vater geworden, ich Großvater. Er macht jetzt sein Ding, ich meines. Wir sind absolut gut miteinander, aber im Moment machen wir eben unterschiedliche Dinge. Das ist auch völlig okay so.
Wird es einen zweiten Teil von Die orientalische Erziehung geben?
In der Tat habe ich am bereits zweiten Teil gearbeitet und dann begann am 27. Oktober die israelische Bodenoffensive im Libanon. Ich sprach mit meiner Freundin über dieses Ereignis, die auch Zeichnerin ist und in Beirut lebt. Und sie sagte mir, dass sie nicht mehr zeichnen könne. Sie war wie blockiert. Da habe ich ihr vorgeschlagen, eine Art Korrespondenz anzufangen. Sie schreibt und zeichnet mir, was bei ihr los ist, ich zeichne ihr, wie es bei mir ist. Wenn alles gut geht, werden wir unser gemeinsames Buch im nächsten September an unseren Verlag übergeben. Danach mache ich vermutlich mit dem zweiten Band meiner Familiengeschichte weiter.

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Angaben zum Buch: Eine orientalische Erziehung. Text/Zeichnungen: Charles Berberian. Aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock. HC, Farbe, 144 Seiten. Reprodukt. 25 Euro.
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