„Deep me“ – Bewusstseinserweiterung im Comic

Dieser Comic ist ein Trip. „Deep Me“ von Marc-Antoine Mathieu, dem Magier unter den Comic-Künstlern. Der Franzose zaubert mal wieder. Nach vielen Experimenten auf der zeichnerischen Ebene überrascht er in „Deep Me“ vor allem in erzählerischer Hinsicht. Wie immer ist seine Arbeit eine Offenbarung und ein Beispiel dafür, was die Neunte Kunst leisten kann und, dass sie ihren Namen absolut verdient hat. „Deep Me“ – Bewusstseinserweiterung im Comic. Und das Beste: Ihr könnt das Buch gewinnen. Wie? Das steht am Ende des Blog-Beitrags.

Da ist… nichts. ©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.

Wer Marc-Antoine Mathieu kennt, weiß: Seine Comics sind komponiert, nichts ist dem Zufall überlassen. Der Zeichner überrascht seine Leser gerne, fordert sie vielleicht auch heraus. Bei „Deep Me“ sind es vor allem die ersten Seiten, die ungewöhnlich sind. Keine Zeichnungen, viele schwarze Flächen, nur Sprechblasen für unterschiedliche, unbekannte Protagonisten.

Ein Comic ohne Zeichnungen?

Als Leser taucht man sofort ein. Tief in die Geschichte und ins Bewusstsein der Hauptfigur – Adam. Langsam erscheint diese aus dem Nichts. Vielleicht wird sie erst wach? Orientiert sich, will die Augen öffnen? Aber es geht nicht. Alles bleibt schwarz. Es sind nur Stimmen zu hören. Die von Außen und die eigene von Innen.

Das schlichte Cover. ©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.

Doch wer ist dieser Adam, der da gerufen wird? Und warum können die anderen ihn nicht hören? Warum ist er in seinem Körper gefangen, ohne sich artikulieren zu können? Oder ist vielleicht alles ganz anders? „Das Denken ist eine der Daseinsformen von Materie“ steht zu Beginn des Buches. Selten bin ich bei einem Comic so tief eingetaucht in diese Materie – quasi direkt ins Hirn der Hauptfigur.

Zeichnerische Stille

27 Seiten lang verzichtet Mathieu auf konkrete Zeichnungen. Und auch danach geht es verschwommen weiter. Auf Seite 51 erkennt man ein Labyrinth – ein oft wiederkehrendes Motiv in seinen Comics. Auf Seite 85 wird es zum ersten Mal menschlich. Die Stimmen bekommen Gesichter. Der gestalterische Höhepunkt aber passiert ein paar Seiten vorher.

„Willkommen im Hier und Jetzt!“
©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.

Es mag banal klingen. Aber der Effekt ist phänomenal. Zwei absolut schwarze Seiten, auf die zwei weiße Seiten folgen. Mit einer kleinen Sprechblase, in der der Name „Adam?“ steht. Wer den Comic wie ich am Stück verschlingt, wird an dieser Stelle einen kleinen Schock erleben. Keine Zeichnung bewirkt das, kein obszöner Text. Nur die Aufeinanderfolge von zwei schwarzen Seiten und zwei überwiegend weißen Seiten. Von tiefem Schwarz zu strahlendem Weiß.

Von Schwarz zu Weiß

In diesem Moment ist es, als ob man herausgeschleudert wird aus dem Buch. Ins grelle Licht tritt, das fast wehtut. Klinisch wirkt, als würde man unter riesigen Schweinwerfern die Augen öffnen, nachdem man wochenlang in Dunkelheit gelebt hat. So in etwa muss es sich anfühlen – aus der inneren Isolation zu erwachen – aus dem tiefen Ich – aus dem Unterbewusstsein.

Wo soll es hingehen? ©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.

Durch fast alle Arbeiten von Marc-Antoine Mathieu zieht sich ein roter Faden: seine Liebe für einen gewissen Schriftsteller aus Prag. Sein Protagonist in vielen Alben nennt sich Julius Corentin Acquefacques. Gelesen Akfak. Rückwärts für Kafka. Dieser Akfak erlebt allerlei skurrile Träume, lebt in einer winzigen Wohnung und ist Mitarbeiter des Ministeriums für Humor.

Akfak – Kafka

Ist Adam das andere Ich von Acquefacques? Wir wissen es nicht. Während jener Gefangener der Träume ist, wie es im Untertitel heißt, wissen wir über Adam nichts. Bis zum Schluss. Den wenigen Seiten, auf denen er sich seiner Rolle und Situation bewusst wird, folgen wieder nebulöse, schemenhafte Zeichnungen. Mathieu lässt Raum für Spekulationen.

Erinnerungen? ©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.

„Deep Me“ ist die konsequente Weiterentwicklung eines bisher schon komplexen Werks. Wieder einmal erfindet sich der Zeichner Marc-Antoine Mathieu neu. Er schneidet zwar keine Panel aus, vertauscht Cover und Innenseiten oder zerreißt absichtlich Seiten – wie in früheren Comics. Aber er zeigt erneut, was möglich ist, wenn man die Kapazitäten des Comics intelligent ausschöpft. „Deep Me“ ist eine absolute Leseempfehlung. Der bisherige Höhepunkt in einem an sehr guten Comics nicht armen Comic-Jahr.

10 von 5 Comic-Denkblasen

Wachphase Nr. 107. ©2023 Reprodukt für die deutschsprachige Ausgabe.
Angaben zum Buch: Deep me. Text/Zeichnungen: Marc-Antoine Mathieu. Aus dem Französischen von Hanna Reininger, Lettering von Anna Weißmann / Font: Marc-Antoine Mathieu. HC, schwarzweiß, 120 Seiten. Verlag: Reprodukt. 24,-€

Hier geht’s zum Verlag: Reprodukt

Und hier war Marc-Antoine Mathieu schon einmal Thema auf der Comic-Denkblase: Plakatmotiv und Ausstellung

Wie Ihr wisst, feiere ich fünf Jahre Comic-Denkblase. Aus diesem Grund verlose ich drei Exemplare von „Deep Me“ – Ein großes Danke an Reprodukt, die mir die Bücher zur Verfügung stellen und auch verschicken. Wer ein Buch gewinnen möchte, schreibt mir bitte einen Kommentar – gern zum Blog, oder auch zu Marc-Antoine Mathieu. Die drei Gewinner werden ausgelost. Wer mitmacht, erklärt sich einverstanden, dass ich seine postalische Adresse an den Verlag weiterleite. Mitmachen könnt Ihr bis zum kommenden Freitag, also den 21. Juli 2023 – 23.59 Uhr. Viel Erfolg!

Die Verlosung ist beendet! Die Gewinner werden informiert. Danke allen fürs mitmachen und viel Erfolg beim nächsten Mal!

17 Kommentare

  1. Herzlichen Glückwunsch zum 5-jährigen Jubiläum deines mit Leidenschaft und Hingabe betriebenen Blogs und vielen Dank für die Chance, diesen abstrakt wie abstrus, psychedelisch wie introspektiv wirkenden Comic zu gewinnen!

    1. Ich finde es zwar schade, dass der Hypertraum mit Julius Corentin Acquefaques (Band 7) bisher nicht bei Reprodukt erschienen ist, da ich die Reihe sammle, aber Deep Me würde ich auch sehr gerne lesen.

      Vielen Dank für die Besprechung!

  2. Nach „OTTO“ scheint es ein weiterer großer Comic nach meinem Geschmack zu sein, deine Besprechung macht mich auf jeden Fall sehr neugierig!

  3. Ich habe noch kein Werk von Marc-Antoine Mathieu gelesen. Ehrlich gesagt war er mir bis dato unbekannt (Kulturlücke ). Da ich seit kurzem deinem Blog folge, bin ich vor wenigen Tagen auf den Künstler aufmerksam geworden. Einen Comic nur durch schwarz und weiß darzustellen ist schon eine Herausforderung, aber durch diesen Zeichner ist wohl eine besondere Erfahrung zu erwarten.

  4. Glückwunsch zum Fünfjährigen! 🙂 Ich verfolge deinen Blog seit ca. 2 Jahren und habe mich schon über viele gute Anregungen gefreut! Danke auf diesem Wege dafür!
    Über ein Exemplar würde ich mich sehr freuen.

  5. Moin Denkblase,

    ich habe bis Dato nur 2 Werke (3 Sek. & Gott höchstselbst) von Marc-Antoine Mathieu gelesen, finde aber er ist ein spannender Künstler und seine weiteren Werke werden auch, nach und nach, wahrscheinlich in meine Sammlung einziehen. Also freue ich mich sehr, daß Du sein neues Schaffen hier besprochen und mich noch zusätzlich neugierig gemacht hast.

    Liebe Grüße,
    Hoschi (Erik)

  6. Alles Gute zum 5-jährigen!
    Auf viele mehr die folgen!

    Bewusstseinserweiterung per Comics hört sich extrem spannend an. Da hätte ich Lust drauf.

    Lg, Stephan

  7. Ein experimenteller Comic! 😍 – Sieht spannend aus, die Leseempfehlung tut ihr Übriges. Ich hüpfe sehr gerne in den Lostopf und schließe mich den Glückwünschen an: Alles Gute zum fünfjährigen Blog-Bestehen!

  8. Habe zu meinem Bedauern den Blog erst gestern entdeckt.
    Vielen lieben herzlichen Dank für das Jahrelange recherieren. Phantom inspiriert mich sehr.
    Ich hoffe, das ich meine Wahrnehmung und Weitsicht noch veressern kann. Es ist etwas anderes
    Phantom als Erwachsener zu lesen. Kinder freuen sich über die Geschichten. Erwachsene DENKEN
    NACH. Bisher habe ich mit Schriftstellern, Dichtern und Philosophen befasst wie z.B.: Seneca, Arthur Schopenhauer, Reinhold Karl Werner Schneider und zuletzt mit Baltasar Gracián. Ich glaube es ist an
    der Zeit, mich nun mit dem Phantom zu befassen. Ein Exemplar von Deep me würde mich überaus
    glücklich machen. Vielen Dank für das Lesen meiner Zeilen.

  9. In Frankreich hatte ich Mal ein Album von ihm gesehen. Hatte diesem aber leider nicht sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt. Zum Glück lässt sich das jetzt Dank Reprodukt ändern.

  10. na klar möchte ich gerne einen neuen Mathieu gewinnen.

    Trotzdem einen wirklich aufrichtigen Glückwunsch zum Jubiläum,
    Comic-Denkblase ist ein Bookmark unter meinen Comic-Bookmarks, ich sehe hier immer mal wieder (gerne!) vorbei.

    Ich habe gerade mal nachgesehen, das ist jetzt echt gute 30 Jahre her, daß ich mir den „Ursprung“, damals noch von Carlsen gekauft habe. Seither hat meine Begeisterung für Mathieus Werk nicht abgenommen und die Comics habe ich immer wieder und wieder gelesen, wurde auch von Neuerscheinungen nie enttäuscht, SOLLTE ich den hier NICHT gewinnen… muss ich ihn mir wohl kaufen…

  11. Habe DEEP ME eben beendet; er lag zwar schon kurz nach Erscheinen hier, aber für Mathieu nehme ich mir immer Muße.
    Wieder ein Geniestreich, der es umso bedauernswerter macht, dass sich der deutsche Verlag wegen der erhöhten Anforderungen an die Druckerei, die eben auch erhöhte Kosten nach sich zieht, trotz erfolgreichem crowdfunding im vergangenen Jahr dem HYPERTRAUM weiter beharrlich verweigert. Ich bin sicher, dass viele Mathieu-Fans einen dem Aufwand angepassten höheren Preis zu zahlen bereit wären… immerhin ist ein grosser Teil des Backkatalogs, insbesondere aus dieser Reihe, vergriffen.

    Ich habe Mathieu auch erst vor einigen Jahren kennengelernt, und wirklich alles auf deutsch erschienene inzwischen angeschafft – notfalls gebraucht und spürbar teurer als neu – und auch die Ausstellung vor einigen Jahren in Frankfurt/M. besucht.
    Mathieu ist ein Ausnahmekünstler, und ein Verlag, der diese Perle nicht hegt und pflegt, hat ihn m. E. nicht weiter in seinem Portfolio verdient. Es gäbe sicher Interessenten mit mehr Mumm.

    Und nein, gewinnen wollte ich den Band sowieso nicht, denn ich hätte ihn ohnehin gekauft; besser, man erweitert die Fanbase 😉

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