Was für ein Buch! Eines, das ich nicht aus der Hand legen konnte und es mehr oder weniger in einem Rutsch durchgelesen habe. Schweigen ist sogar einer meiner Favoriten für den Comic des Jahres. Was Birgit Weyhe hier hervorgebracht hat, ist wirklich preiswürdig und zeigt die Möglichkeiten, die die Neunte Kunst bietet. Zu Recht ist sie mit dem Buch ja auch Teil der Ausstellung Ich werde nicht schweigen, über die ich zuletzt hier geschrieben habe.
So nämlich setzt man gesellschaftspolitisch relevante, aber lange vergessene, Themen um. So weckt man Neugier – auch für Themen abseits des Mainstreams. Auch ich hätte mich vermutlich nicht mit der argentinischen Militärdiktatur auseinandergesetzt, wenn ich nicht Schweigen – von Birgit Weyhe gelesen hätte.

© Birgit Weyhe & avant-verlag GmbH, 2025
Birgit Weyhe erzählt zwei Geschichten. Zum einen die der deutschen Jüdin Ellen Marx. Ihre Geschichte beginnt im November 1938, da ist Ellen 16 Jahre alt und sie spürt am eigenen Leib, dass das Deutsche Reich keine Heimat mehr für sie ist. Mit der Reichspogromnacht setzen die Nazis ein eindeutiges Zeichen. Kein Jude ist mehr sicher. Ellen darf die Schule nicht mehr besuchen. Ehemalige Freundinnen wenden sich von ihr ab.
Ellen Marx – als Jugendliche nach Argentinien geflohen
Weil sich die Lage immer mehr zuspitzt, entscheiden Ellens Eltern, dass sie nach Argentinien flüchten soll. Gemeinsam mit einer Freundin geht sie auf ein Schiff, das sie über den Atlantik bringt. Ihre Eltern wollen nachkommen – so heißt es. Doch schon die Ankunft in Argentinien ist alles andere als leicht. Nur Dank der Hilfe des Gruppenleiters ihrer jüdischen Jugendgruppe dürfen die Flüchtenden im Land bleiben. Auf den Nachzug ihrer Eltern wartet Ellen vergeblich.

© Birgit Weyhe & avant-verlag GmbH, 2025
Die andere Geschichte dreht sich um Elisabeth. Sie gehört zur Nachkriegsgeneration, geht wie viele andere Ende der 1960er Jahre auf die Straße, um gegen den Vietnamkrieg zu demonstrieren, oder auch gegen Schah Reza Pahlavi aus Iran. So ist sie auch unter den Demonstranten, als am 2. Juni 1967 Benno Ohnesorg vom Zivilpolizisten Karl-Heinz Kurras erschossen wird.
Radikalisierung der Studentenbewegung
Auch das Attentat auf Studentenführer Rudi Dutschke trägt dazu bei, dass sich Teile der Studentenbewegung radikalisieren. Elisabeth aber begeistert sich für Kranken- und Sozialbetreuung im Ausland. Sie reist nach Bolivien um ein verpflichtendes Praxissemester zu absolvieren. Nach dessen Ende reist sie durch den gesamten Kontinent und landet schließlich in Buenos Aires, wo sie Mitglied einer trotzkistischen Vereinigung wird.

© Birgit Weyhe & avant-verlag GmbH, 2025
Man ahnt schon fast, dass das politische Engagement von Elisabeth kein gutes Ende nimmt. Immer wieder werden zu der Zeit linke Aktivisten verhaftet. Auch Elisabeth wird von sogenannten Ordnungskräften abgeführt. Später erfährt man, dass sie gefoltert und schließlich ermordet wird. Ein Fall, der eigentlich diplomatische Komplikationen hervorrufen müsste, aber die deutsche Regierung hält sich zurück, während Länder wie Frankreich oder Schweden protestierten.
Ähnliche Schicksale
Zurück zu Ellen Marx. Fast 40 Jahre nach ihrer Emigration engagiert sich ihre Tochter Nora ebenfalls politisch. Sie setzt sich für Frauenrechte ein, gründet Gesprächsgruppen. Eines Tages erscheint sie nicht zu einer Verabredung und bleibt daraufhin spurlos verschwunden. Die Regierung schweigt zu dem Vorfall. Ellen geht daraufhin wie viele andere Mütter auf die Straße. Mit Baumwollwindeln auf dem Kopf, auf denen sie die Namen ihrer verschwundenen Kinder gestickt hatten, gehen sie stumm zum Regierungspalast. Als Madres de Plaza de Mayo werden sie weltweit bekannt.

© Birgit Weyhe & avant-verlag GmbH, 2025
Die beiden Schicksale werfen viele Fragen auf. Wo sind die Täter? Wer wird zur Rechenschaft gezogen? Wer ist schuld? Was passiert mit den Opfern und deren Angehörigen? Schon gleich zu Beginn des Buches macht Birgit Wehye darauf aufmerksam, dass das Schweigen von Tätern andere Folgen hat als das Schweigen von Opfern. Und, dass es natürlich andere Ursachen hat. Auf die Zeit des Nationalsozialismus bezogen liegt diese Unterscheidung auf der Hand. Aber sie gilt natürlich auch für andere historische Epochen.
Kontext – Geschichte und Geschichten
Weyhe konstruiert Schweigen auf eine spezielle Art und Weise. Nicht nur, dass sie die Geschichten von Ellen und Elisabeth mehr oder weniger abwechselnd erzählt. Sie fügt zu den einzelnen Kapiteln auch jeweils passende Kontexte ein – erläutert darin deren geschichtlichen Hintergrund. Egal, ob es dabei um die Zeit des Nationalsozialismus geht, um die Studentenbewegung der 1960er Jahre oder die politische Entwicklung in Argentinien seit Beginn des vergangenen Jahrhunderts. Das macht das Buch nicht nur unterhaltsam, sondern auf leichte Art auch lehrreich.

© Vera Drebusch
Wer sich für neuzeitliche Geschichte interessiert, wird an dem Comic große Freude haben. Und möglicherweise ein Thema entdecken, das er nicht unbedingt auf dem Zettel hatte. Schon für ihr Buch Madgermanes, eine Geschichte über ehemalige DDR-Vertragsarbeiter aus Mosambik, wurde die Zeichnerin mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Berthold-Leibinger-Preis und dem Max-und-Moritz-Preis des Comic-Salons Erlangen. Auch ihr aktueller Band Schweigen dürfte in jedem Fall preiswürdig sein.
5 von 5 Comic-Denkblasen
Angaben zum Buch: Schweigen. Text/Zeichnungen: Birgit Weyhe. HC, Farbe, 368 Seiten. Avant-Verlag. 39 Euro.
Hier gehts zum Verlag: Avant