Der vierte Teil der Serie Spirou oder die Hoffnung des französischen Zeichners Émile Bravo ist eben von einer 30-köpfigen Kritikergruppe, der ich angehöre, zum besten Comic des Quartals gewählt worden. Bravo hat neun Jahre lang an der Geschichte gearbeitet. Auf dem Comic-Salon in Erlangen hatte ich Gelegenheit, mit dem äußerst sympathischen Zeichner über den Abschlussband zu reden. Wobei es weniger um den Inhalt des Albums ging, sondern mehr um Moral, Verantwortung und Bildung.
(Alex Jakubowski) Lieber Émile, nach vier Alben und so einer langen Zeit: Was überwiegt da, Erleichterung oder Wehmut?
(Émile Bravo): Nach neun Jahren, in denen ich an den Alben gearbeitet habe, überwiegt eigentlich weder das eine noch das andere. Es ist eher ein Zustand des Erstaunens. Was kommt denn jetzt eigentlich?
Wenn man aber von Erleichterung sprechen will, dann besteht die darin, dass ich eine Geschichte erzählen wollte und die habe ich nun wirklich abgeschlossen. Auf der anderen Seite ist es aber auch ein klein wenig schmerzlich. Denn es sind ja Figuren, die einem sehr nahe stehen über die lange Zeit. Und jetzt stelle ich mir die Frage: Wie gehe ich nun damit um? Sind das jetzt Kinder, die erwachsen geworden sind, die man nun aus dem Haus gehen lässt? Ich hänge ja nun doch sehr an ihnen. In der Tat ist es ein sehr zweischneidiges Schwert.
Dass Spirou und Fantasio Dir vertraut sind, ist klar. Aber welche anderen Figuren sind Dir über die Jahre besonders ans Herz gewachsen?
Es ist eine Reihe von Figuren, die mir ans Herz gewachsen sind. Denn im Gegensatz zu Spirou und Fantasio habe ich die Anderen ja selbst erschaffen. Ich habe vor allem die lieb gewonnen, die durch eine besonders menschliche Verhaltensweise aufgefallen sind. Das Landwirtsehepaar etwa, deren beiden Töchter, die kleinen Jungs und Mädchen auf dem Spielplatz. Das sind die Figuren, die mir lieb und teuer geworden sind.
Zum Glück werde ich immer mit diesen Figuren verbunden bleiben, denn ich habe ihnen allen eine Zukunft gegeben. Das Landwirtsehepaar wird vermutlich in den Kongo gehen. Es wird die beiden kleinen Kinder mitnehmen, die Spirou gerettet hat. Die große Tochter hat eine Liebschaft mit einem Widerständler. Wird das etwas werden oder nicht? Die Kleine hat ihren Freund, den wir auch kennen. Für all diese Figuren ist ein Weg in die Zukunft angelegt. Sie bleiben deshalb Teil meines Kosmos. Es ist sehr beruhigend zu wissen, dass meine Kinder eine Zukunft haben werden (lacht).
Jetzt ist der vierte Band erst vor Kurzem in Deutschland erschienen. In Frankreich und Belgien ist er schon länger auf dem Markt. Wie sind die Reaktionen auf den Abschluss der Geschichte?
Die meiste Aufmerksamkeit hat in Frankreich die Figur des Felix Nussbaum erregt, der dort weitestgehend unbekannt ist. Für die Leser war das eine Figur, die eine erfundene Figur hätte sein können. Am Ende aber dann zu erfahren, dass es Nussbaum wirklich gegeben hat und er auf diese Art zu Tode gekommen ist – das hat viele überrascht.
Wenn man sonst vom Krieg erzählt, ist das oft abstrakt. Man hat keinen direkten Zugang mehr. Aber in diesem Fall wurde den Lesern bewusst, dass es zwar eine fiktionale Geschichte ist, dass es aber einen Teil gibt, der wirklich passiert ist. Das ist sehr, sehr stark wahrgenommen worden.
Die Figur des Felix Nussbaum und auch der zehnseitige Epilog hat den Leuten klar gemacht: das ist jetzt nicht nur eine erfundene Geschichte.
Gibt es wesentliche Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich, was die Wahrnehmung der Geschichte insgesamt angeht?
Ich könnte mir vorstellen, dass man in Deutschland mehr über Felix Nussbaum weiß. Aber ist das wirklich so?
Es ist mir sehr wichtig, deutlich zu machen, dass die Deutschen nicht als grundsätzlich böse dargestellt werden. Natürlich gab es die Nazis. Aber es geht um das menschliche Befinden, um das menschliche Verhalten.
Es ist auch wichtig zu sehen, wie die deutschen Soldaten dargestellt werden. Im Grunde, wie eine Maschine, wie eine schwarze, formlose Masse. Wie eine bedrohliche Maschinerie, keine individuellen Personen. Ich wollte nicht diese überhöhte Nazi-Optik verwenden. Das ist eine üble Angelegenheit. Das einzige Mal, in der ich eine realistische SS-Uniform zeige, wird sie von einem Belgier getragen, nicht von einem Deutschen.
(Anmerkung des Übersetzers Ulrich Pröfrock): Ich kenne die Figur gut, da ich das Felix Nussbaum-Haus in Osnabrück kenne. Aber ich denke, dass es in Deutschland kaum mehr Menschen gibt, als in Frankreich, die die Figur kennen.
Was mir nach dem Lesen vor allem im Kopf geblieben ist, war der kleine Junge, der als Wehrmachtssoldat auftritt und der voller Konflikte ist. Wie schwierig ist es, so etwas darzustellen? Auch diese Zerrissenheit, ohne dass es zu pathetisch wird?
Ich brauche zunächst sehr viel Mitgefühl, ich muss mich in die Figur hineindenken. Man muss sich auch klar machen, worum es sich bei dem Jungen handelt. Ist es vielleicht ein spät Eingezogener? Oder doch ein schwer indoktrinierter aber eben ganz junger Kerl? Man weiß es nicht, man kann etwas vermuten, man kann es sich wünschen. Aber man kann es selbst nicht entscheiden. Das zeigt sich ja auch bei der Reaktion von Spirou, der zu Fantasio sagt: Pass auf, das könnte ich sein, als Deutscher.
Ich finde das sehr gut gelungen. Wie überhaupt auch die Auseinandersetzung, die Spirou und Fantasio miteinander haben, sehr gelungen dargestellt wird. Sie führen ja fast eine philosophische oder moralische Debatte. Wann war Dir klar, dass das im Comic so gut funktionieren kann?
Ich finde, der Begriff Moral ist etwas zwiespältig. Ich moralisiere nicht gern. Jeder muss für sich mit der Situation klarkommen. Ich habe mich schon von klein auf mit dem Thema auseinandergesetzt, aus der Geschichte meiner Familie heraus. Mein Vater ist 1939 vor den spanischen Faschisten nach Frankreich geflohen. Nur deswegen bin ich hier in dieser Welt, denn mein Vater hat meine Mutter dort kennengelernt. Was wäre mit meinem Vater passiert, wäre er in Spanien geblieben? Wäre er ein Mitläufer geworden? Wer weiß das?
Jeder Nationalismus ist völliger Irrsinn. Das kann in jedem Land zu jeder Zeit passieren. Die Mechanismen sind immer gleich. Ich habe sehr oft darüber nachgedacht, was mit mir in der Zeit gewesen wäre, wenn ich in Deutschland aufgewachsen wäre. Vermutlich wäre ich bei der Hitler-Jugend gewesen. Wer weiß, wie mein Weg gewesen wäre? Ich hatte das große Glück, dass ich in Freiheit, auch gedanklicher Freiheit groß geworden bin. Es wäre vermessen zu sagen, ich wäre da nicht dabei gewesen, ich wäre bei denen gewesen, die sich widersetzt hätten. Nein, das kann man nicht sagen, das darf man nicht sagen.
Jetzt ist ja seit dem Erscheinen des ersten Bandes bis jetzt viel passiert in der Welt. Überall gibt es rechte Tendenzen. Wie groß ist Deine Hoffnung, dass durch die Lektüre Deiner Geschichte bei vielen Lesern die Rechten keine Chance haben?
Bildung und Erziehung sind sehr wichtig. Das Wissen um die Dinge. Der nationalistische Diskurs ist der schlichteste von allen. Weil er sich über ein Feindbild definiert: alles was nicht zu uns gehört, ist gegen uns.
Bildung kann da entgegenwirken. Aber in der Tat ist es ein schwieriger Weg, zu begreifen, dass Vielfalt nicht Gegensätzlichkeit bedeutet, sondern Teil eines großen Ganzen ist. Am Ende muss das jeder lernen. Und das tun auch Spioru und Fantasio – um auf den Comic zurück zu kommen. Sie werden in einer gewissen Weise erwachsener, weil sie erkennen, dass die Mechanismen so funktionieren. Wenn der Comic also dazu beitragen kann, dass sich meine Leser selbst ein Bild machen und aufgeklärt werden, dann bin ich zufrieden.
Man könnte fast sagen: Spirou oder die Hoffnung. Danke Dir sehr, lieber Émile.
Vielen Dank auch an Ulrich Pröfrock fürs dolmetschen!
Hier geht es zum Verlag: https://www.carlsen.de/softcover/spirou-und-fantasio-spezial-36-spirou-oder-die-hoffnung-4/978-3-551-78047-8
Mehr Infos zur Reihe Spirou und Fantasio Spezial gibt es auch hier: https://comic-denkblase.de/flix-deluxe-spirou-in-berlin
Großartiger Abschluss einer wunderbaren Arbeit! Habe jedem Band entgegengefiebert! Merci, Émile Bravo!