Irrlicht und Tick Tock

Autor Michael Mikolajczak hat soeben zwei völlig unterschiedliche Comic-Publikationen veröffentlicht. In Irrlicht geht er gestalterisch ungewöhnliche Wege und blickt in Form eines Medien-Mixes in die Seele seines Protagonisten. In dem Sammelband Tick Tock vereint er einige Kurzgeschichten, die unterschiedlichste Zeichner:innen in unterschiedlichsten Stilen umgesetzt haben. Im Interview erläutert Michael uns die Hintergründe von Irrlicht und Tick Tock
Comic – oder doch nicht? Eine Beispielseite aus Irrlicht. © Kult Comics
Lieber Michael, Du hast mit Irrlicht einen recht experimentellen Comic vorgelegt. Ein Buch, das Fotos, Sprechblasen und Grafiken kombiniert. Wie würdest Du selbst das Werk charakterisieren?

Irrlicht ist die düstere Beschreibung einer zerrütteten Seele. Es ist ein experimentelles Werk, das den Wahn visualisiert, das Vergessen und daraus resultierende Fragen. Es geht dabei um Zweifel und Qual der Hauptfigur Irrlicht, deren Name ein Spiegel ihrer Psyche ist. Bild- und Sprachebene sind scheinbar voneinander losgelöst. Die Bildebene illustriert eine Stadt des Verfalls. Sie erzählt eine Welt ohne Menschen und spiegelt das Gefühl, verloren und allein zu sein. Bilder ohne Menschen als gestalterischer Ausdruck der inneren Monologe im Kopfe Irrlichts.

Würdest Du Irrlicht überhaupt als Comic einordnen?

Bildfolgen und Texte erzählen im Comic eine Geschichte – so auch in Irrlicht. Ich verwende Fotos, um die Geschichte zu visualisieren und das rückt Irrlicht etwas vom Medium Comic ab. Die experimentelle Erzählform vergrößert den Abstand zum klassischen Comic noch weiter. Irrlicht ist dennoch ein Comic und steht in der Tradition der Fotocomics und Fotoromane. In Vergessenheit geratene Medien, die es Wert sind, wiederbelebt zu werden.

Cover von Irrlicht. © Kult Comics
Worum geht es in Irrlicht denn genau? 

Die Hauptfigur Irrlicht versucht ihr Leben zu rekonstruieren, das durch den Verlust von Anna gänzlich aus geordneten Lebensbahnen geraten ist. Irrlichts Leid manifestiert sich in Vergessen und Verdrängen seines Lebenstraumas. Unbewusst wehrt er sich dagegen. Er versucht die Puzzleteile seines zertrümmerten Daseins wieder zusammenzusetzen. Sich an den Verlust seiner Frau Anna zu erinnern und zu rekonstruieren, wie es dazu kam und wie sich Liebe und Trauer anfühlen.

Parallel dazu hast Du einen Sammelband der Kult Geschichten aus Deiner Feder veröffentlicht. Tick Tock – Was erwartet die Leser hier? 

Tick Tock ist eine Sammlung von acht Kurzcomics, die als Kult Geschichten Integral 1 bei Kult Comics erschienen sind. Es handelt sich um düstere Stories, die ein wenig in der Tradition der klassischen Kurzcomics aus den Warren-Magazinen Creepy, Eerie und Vampirella stehen.

Einige Geschichten in Tick Tock basieren auf wahren Begebenheiten, wie die von Jacek Piotrowski gezeichnete Titelgeschichte über eine alte Frau, die nichts mehr fürchtet, als lebendig begraben zu werden. Oder Das Vermächtnis des Herrn Edison, illustriert von Paolo Massagli, in der über die Erfindung des elektrischen Stuhls berichtet wird. In Der Teufel und ich setzt Ernest Rodriguez die Legende des Blues Gitarristen Robert Johnson um, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben soll. Sascha Dörp zeichnet in S.C.U.M Valerie Solanas, die Andy Warhol niederschoss.

In Tick Tock finden sich auch rein fiktionale Geschichten, wie Hänsels Reise inszeniert von Christian „Zano“ Zanotelli. Kindesmissbrauch im Märchen und der Realität werden hier thematisiert. Erik van Schoor illustriert in Smiley oder der Tod des Lächelns die Spuren, die das Tragen von FFP2 Masken in der Seele eines Menschen hinterlassen können. Im erzählerischen Zentrum von Königinnen steht der Mord an einer Rivalin, um die Liebe eines Mannes zu gewinnen. Chris W. Jany bebildert in Der Fluch der Fledermaus eine Geschichte über Wahn, Viren und eine Hauptfigur, die durchaus Batman sein könnte. Ob wahre oder fiktive Geschichten, allen Stories gemein ist eine Prise Düsternis – oder mehr.

Cover des Tick Tock Bandes. © Kult Comics
Sind die Geschichten zuvor bereits erschienen?

Königinnen mit Zeichnungen von Holger Klein (siehe auch Wolkes Wahn) sowie S.C.U.M aus der Zeichenfeder von Sascha Dörp erschienen 2018 im Gratis Comic Tag-Heft des Kult Comics Verlags. Der Fluch der Fledermaus illustriert von Chris W. Jany wie auch Hänsels Reise von Christian „Zano“ Zanotelli wurden 2022 in Ausgaben des Gratis-Comic-Magazin Comics&Mehr veröffentlicht. Genre, Stimmung, Botschaft und Umfang der Geschichten ergänzen sich mit den vier noch nicht veröffentlichten Kurzcomics, die Teil von Tick Tock sind.

Du arbeitest hier mit vielen unterschiedlichen Zeichnern zusammen, die auch unterschiedliche Stile beitragen. Kannst Du uns die Kooperationen beschreiben? Wie gehst Du vor? Schreibst Du bestimmte Geschichten den Zeichnern quasi auf den Leib?

Beim Strukturieren einer Idee habe ich bereits eine Vorstellung, wie die langsam wachsende Geschichte visualisiert werden soll. Mit einem bestimmten Zeichenstil im Kopf begebe ich mich auf die Suche nach der passenden Zeichnerin oder dem passenden Zeichner. Ich gucke meist auf Instagram und staune immer wieder über die Vielzahl an Comic-Kreativen, die es in Deutschland und darüber hinaus zu entdecken gibt. Werde ich fündig, schreibe ich die Person an, hoffe sie für eine Kooperation zu begeistern, an deren Ende eine Veröffentlichung bei Kult Comics steht. Ausdrücklich möchte ich Verleger Sebastian Röpke danken, der mir maximale Freiheit bei der Umsetzung meiner Geschichten lässt und an mich und an deutsche Comic-Produktionen glaubt.

Hat sich eine Zusammenarbeit mit einer Zeichnerin oder einem Zeichner für beide Seiten gelohnt und beiden Parteien Spaß gebracht, denke ich konkret über Folgeprojekte nach und schreibe Stories, die zum Stil oder zur Wandlungsfähigkeit im Stil meiner zeichnenden Kolleginnen und Kollegen passen. Für mich als Autor ist es etwas sehr Besonderes mit so vielen und so guten Kreativen zusammengearbeitet zu haben und künftig weiter zu arbeiten.

Eine Seite des Zeichners Erik van Schoor © Kult Comics
Gibt es inhaltliche Zusammenhänge zwischen den jeweiligen Geschichten?

Ich schätze Figuren mit einem Bruch in ihrem Lebenslauf, mit Untiefen, die sie in eine Handlung verstricken und diese düster gestalten. Dies ist der rote Faden meiner Comics und findet sich in Tick Tock, Irrlicht, Die Spinne, Der Vampir von Düsseldorf, Sumi, Paradies, Sandmann und Blutspur wieder, die alle bei Kult Comics erschienen sind.

Diesen, im US-Format erschienen Graphic Novels, stehen die beiden schrägen, schrillen Funny-Comics Santas große Sause Band 1 und 2 gegenüber, zwei Screw Ball-Alben über Claus Santa, den Weihnachtsmann. Diese Geschichten grenzen sich im Format und Genre von meinen übrigen Arbeiten ab, sind eher Ausnahme als Regel meines Schreibens.

Was können wir als nächstes von Dir erwarten?

Ich habe ständig neue Ideen für Stories, gehe damit schwanger und sobald ich herausgefunden habe, wie Figuren und Geschichte funktionieren, baut sich in mir eine positive innere Spannung auf, die ich in Text kanalisiere. Kurzum: Ich schreibe viel und gerne.

In Warteschleife befinden sich einige Graphic Novel-Manuskripte für die ich noch keine passende Zeichnerin oder Zeichner gefunden habe –  aber die Augen offenhalte.

Autor Michael Mikolajczak © privat

Andere Manuskripte befinden sich in der zeichnerischen Umsetzung, wie Red Cross mit Dom Valecillo, Flint & Mortimer mit Christian Scharfenberg, Kaydee Artistry und Miriam Esdohr, Fabel mit Artur „Plast“ Winter, Sturm über Spiekeroog mit Torben Bockkolt, Tinkerville Blues mit Andreas Möller, Askja mit Franz Hoegl, Der Tag an dem Billie Holiday starb mit Ernesto „Erggo“ Rodriguez, Kill City und Der Apparat mit Jacek Piotrowski, Der Zwang mit Chris W. Jany sowie Kult Geschichten Integral 2 mit Andreas Möller, Hannes Klesse, Dom Valecillo, Robert Rennwanz, André Bastine und Peter M. Hoffmann.

Ab und an poste ich über den Fortschritt dieser Projekte und oft über aktuelle Comics auf Facebook: Kult Geschichten und Instagram: kult_geschichten. News zu neuen oder kurz vor der Veröffentlichung befindlichen Comics finden sich auch auf www.kultcomics.net, im Kult Comics-Newsletter und auf Facebook: Kult Comics sowie Instagram: kult_comics. Reinschauen lohnt sich. Vielen Dank für das Interview.

Danke Dir!

Hier geht es zum Verlag: Kult Comics

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert