Comics begreifen – „Building Stories“ von Chris Ware

Comiczeichner Chris Ware ist für seine vielschichtig konstruierten Arbeiten bekannt. Ob Jimmy Corrigan oder hier: Building Stories. Die Kunsthistorikerin Nina Eckhoff-Heindl hat nun eine Doktorarbeit veröffentlicht: Comics begreifen – eine Analyse der Building Stories von Chris Ware. Ein ungewöhnlicher und spannender Einblick in die Arbeit eines Ausnahmekünstlers. 

Um diese Comic-Veröffentlichung geht es: Building Stories. ©Foto: Alex Jakubowski
Liebe Nina, Du beschäftigst Dich in Deiner Doktorarbeit mit Chris Wares Building Stories. Wir haben es hier nicht mit einem herkömmlichen Buch zu tun. Es sind 14 unterschiedliche Printprodukte – Broschüren, Kartons, Zeitungsseiten etc. Warum hat Du gerade dieses Werk herangezogen, um eine Arbeit zu schreiben, die Du „Comics begreifen“ genannt hast?

Der Titel stand erst ganz am Ende eines sehr langen Recherche-, Forschungs-, Schreibprozesses. Zu Beginn war mir erst einmal nur klar, dass ich gern meine ersten Überlegungen zu Chris Wares Comics vertiefen möchte. Die konnte ich in der Masterarbeit zum Abschluss meines Kunstgeschichtsstudiums erarbeiten. Dafür habe ich eine Episode aus Rusty Brown herangezogen und daran dann all mein kunstgeschichtliches Analyserepertoire erprobt. Das war spannend, was sich alles zu Farbe, Form und Erzählung sagen ließ. Das fand ich bis dahin in der Comicforschung so noch nicht aufgearbeitet. Das machte mir Lust auf mehr.

Zudem wollte ich besser verstehen, warum mich die Geschichten emotional so stark mitnehmen? Wie es sein kann, dass eine Gestaltungsweise mit klaren Konturen, in der sich die zeichnerische Handschrift so stark zurücknimmt, wo alles sehr konstruiert ist und im Grunde ja auf Handlungsebene relativ wenig in geringem Erzähltempo passiert, doch so affektiv aufgeladen sein kann? Da in Building Stories viele vorhergehende Publikationen Wares Einzug fanden, schien es mir direkt total plausibel, diesen doch sehr speziellen Comic dafür auszusuchen. Und dann war es natürlich auch einfach spannend, weil so viele Publikationsformate und Layoutgestaltungen integriert sind, die auch eng mit der Geschichte des Mediums Comic verbunden sind.

Aus meiner Beschäftigung mit Building Stories heraus ist mir dann deutlich geworden, dass mein bisheriger Schwerpunkt auf das Visuelle und Materielle eines Comics nicht ausreicht. Sondern, dass auch die Handhabung eine wesentliche Rolle dafür spielt, wie wir eine Comicerzählung verstehen und wie diese auf uns wirkt. Damit war dann der Grundstein gelegt für eine Untersuchung, die eher theoretische Überlegungen zum Verständnis des Mediums mit Comicanalysen eines spezifischen Comics sowie dem Comicschaffen von Chris Ware zusammenbringt.

Das Cover der Doktorarbeit. ©Reimer Verlag
Wie bist Du bei der Arbeit vorgegangen? Was waren Deine Hypothesen?

Die Frage, die das ganze Buch durchzieht, ist diejenige danach, wie in Comics durch Sinneswahrnehmung Erfahrung sowie Bedeutung generiert werden kann? In der Erarbeitung des Buches war es mir wichtig, dass ich meine theoretischen Überlegungen immer auch an Comic-Auszügen nachvollziehbar mache und gleichzeitig auch durch die Analysen weiterentwickele. Mein Fokus lag ganz speziell auf narrativen Comics. Ich habe also abstrakte Comics, die explizit keine Erzählung verfolgen (wollen), nicht mit in meine Untersuchung eingebracht. Dafür beziehe ich mich mit meinen Ausführungen gleichermaßen auf gedruckte wie auch digitale Comics.

Die Hypothesen, die ich dabei verfolgt habe, waren, bezogen auf Comics allgemein, dass es sich dabei um ein visuell-taktiles Medium handelt. Das also mit Fokus auf die sinnliche Erfassbarkeit insbesondere visuelle, materielle und die Handhabung betreffende Gestaltungs- und Wirkweisen miteinander verbindet. Bei gedruckten Comics ist dies unmittelbar einleuchtend, insofern der Comic in den Händen gehalten wird. Aber es geht noch weiter: Wenn es sich um eher glänzendes Papier handelt, muss je nach Lichtquelle die Haltung und der Blickwinkel verändert werden, damit Sprechblasen lesbar werden; großformatige Comicbücher mit Hardcover verhalten sich anders in den Händen und verlangen eine andere Gerichtetheit auf den Comic als Hefte mit dünnen Papierseiten.

Analog und digital

Auch bei digitalen Comics sind die Handhabung und die materiellen Qualitäten im Interagieren mit dem Comic von Relevanz. Beispielhaft sind etwa das Tablet in den Händen, der Tastendruck auf der Tastatur, das Scrollen mit der Maus oder auch die suchende Bewegung mit dem Mauszeiger über die Screenoberfläche zu nennen. Am Beispiel des Mauszeigers auf dem Screen, der durch Berührung der Maus in Bewegung versetzt wird, ist auch ersichtlich, was grundsätzlich für die Comicrezeption gilt: visuelle und taktile Qualitäten stehen nicht isoliert nebeneinander, sondern wirken zusammen.

Durch diese Charakterisierung des Mediums als visuell-taktil verschiebt sich auch der Fokus in der Comic-Theorie: Für mich geht es zum Beispiel nicht darum, Comics als isolierte Gegenstände zu definieren – egal ob als Bild-Text-Amalgam oder Bild-Bild-Medium – sondern sie aus ihrer Rezeption heraus zu verstehen, also in ihrer Bezogenheit auf lesend Betrachtende.

Auf dieser Grundlage baue ich dann mit der Frage nach den ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten in Comics auf: Auf welche Weise werden in bzw. durch den Comic die Wahrnehmung bzw. die sinnlichen Vollzüge der Rezipierenden fokussiert und miteinbezogen? Und wird diese Fokussierung für die spezifische Erzählung des Comics fruchtbar gemacht?

Building Stories: ein Konvolut an unterschiedlichen Formaten. ©Foto: Alex Jakubowski
Du sprichst von Comicerzählungen als ästhetische Erfahrungsmöglichkeit. Gilt das für das Genre Comic insgesamt? Oder beziehst Du Dich hier vor allem auf solche Ausnahmekünstler wie Chris Ware?

Anders als das Visuell-Taktile, das dem gesamten Medium zukommt, sehe ich ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten sehr spezifisch gebunden an die Rezeptionssituation einer Person mit einem spezifischen Comic. Chris Wares Building Stories war mein Beispiel, um sehr detailliert über derartige Erfahrungsmöglichkeiten zu sprechen. Aber ich zeige an weiteren Beispielen auf, wie etwa an Katie Greens Lighter Than my Shadow (2013), Emil Ferris’ My Favorite Thing is Monsters. Book One (2018), Hawkeye Vol. 4 #19 (2014) oder RAW #3 (1981), auf welche Weise hier jeweils ästhetische Erfahrung generiert wird.

Ästhetische Erfahrungsmöglichkeiten sind demnach ganz unabhängig davon, ob es sich um einen Fiction-/Non-Fiction-Comic, einen Alternative-/Mainstream-Comic, eine Single-Author-Publikation oder ein Magazinformat mit Herausgebenden und mehreren Beitragenden handelt. Auch anhand von historischen Zeitungscomics zeige ich an Schlaglichtern eine Bandbreite ästhetischer Erfahrungsmöglichkeiten auf, die eng mit der jeweiligen Comicerzählung verbunden sind. In jedem dieser Bereiche ist es also möglich, die Erzählung durch und mit ästhetischen Erfahrungsmöglichkeiten anzureichern bzw. hervorzubringen. Diese Möglichkeit muss aber nicht zwingend genutzt werden.

Welche Erkenntnisse hast Du durch Deine Doktorarbeit gewonnen?

Mit einer Comicforschungs- und Kunstwissenschaftsbrille habe ich in der Dissertation Instrumentarien für die Analyse entwickelt, die durch die Artefaktebenen des Dargestellten, der Darstellung und der topologischen Zusammenhänge beschrieben werden kann. Zudem habe ich ein Modell ästhetischer Erfahrung erarbeitet, anhand dessen die kognitiven, leiblichen und affektiven Dimensionen erschlossen werden. Außerdem leistet mein Buch einen umfangreichen Beitrag zur Erschließung von Chris Wares Schaffen.

Eine allgemeinere Neugierbrille aufgesetzt, habe ich Erkenntnisse über Wahrnehmungszusammenhänge gewonnen und zudem über die Arten und Weisen, wie eine Erzählung durch Aspekte mitbestimmt wird, die uns nicht direkt anspringen, weil wir sie aufgrund unserer sozio-kulturellen Prägung als „normal“ begreifen. Damit verstehe ich meine Dissertation auch als einen Beitrag zur Hinterfragung und Offenlegung unmarkierter Vorannahmen im gesellschaftlichen Diskurs.

Über diese Forschungsergebnisse hinaus hat mir die Arbeit an der Dissertation auch geholfen, besser zu verstehen, welche Forschungsinteressen ich ganz grundsätzlich verfolgen, was ich besser verstehen möchte und wie ich dies auch anderen vermitteln kann.

Größenvergleich: Jimmy Corrigan und Building Stories. ©Foto: Alex Jakubowski
Welche Erkenntnis hat Dich besonders überrascht?

Besonders überrascht haben mich zwei Dinge. Erstens: Die Arbeit der Dissertation ist ein doch recht langwieriger Prozess. Ich hatte zu Beginn relativ klare Vorstellungen, was ich wie beleuchten möchte, in welche Richtung alles gehen soll. Dies hat sich recht schnell in ganz andere Richtungen gedreht, es wurde theoretischer, hat sich von einer reinen Monografie weg entwickelt. Und dennoch komme ich am Ende dann wieder auf Ausgangsüberlegungen zurück. Bzw. merke ich, welche Thesen bereits ganz am Anfang vorhanden waren, die ich zu diesem Zeitpunkt aber noch gar nicht als die zielführenden Aspekte eingeordnet hatte. Zweitens hat mich überrascht, wie tiefgreifend die Auswirkungen sozio-kultureller Prägung auf Artefakte, hier: Comics, und deren Produktion und Rezeption sind. Das habe ich in vielen unterschiedlichen Zusammenhängen realisiert.

Etwa als ich mich tiefergehend mit der Kulturgeschichte der Biene und deren über die Jahrhunderte hinweg unterschiedlich bestimmten geschlechtlichen Zuordnung auseinandergesetzt habe. Aber auch in Bezug auf die Handhabung von Comics und den jeweils damit verbundenen körperlichen Anforderungen für die Rezeption und ebenso in Bezug auf das Grundsetting von Building Stories: Ist es wohl Zufall, dass sich eine Geschichte, die sich insbesondere um den Lebensalltag von Frauen verschiedener Altersstufen dreht, vornehmlich in Innenräumen abspielt und in vielerlei Hinsicht über die Körper der Protagonistinnen verhandelt wird? Mit Jimmy Corrigan als direkte Kontrastfolie bin ich der Ansicht: Nein, da spielen ganz klar sozio-kulturelle Prägungen und daraus resultierende geschlechtliche Zuschreibungen hinein. Das schmälert keineswegs diesen Comic, ist aber meines Erachtens ein wichtiger Aspekt der Analyse.

Inwiefern hat Chris Ware selbst Deine Arbeit unterstützt?

Da gibt es einige Punkte: Während des ganzen Recherche- und Schreibprozesses standen wir immer wieder in Kontakt und ich habe von ihm Materialien aus dem Entstehungsprozess von Building Stories einsehen dürfen. Das hat mir sehr geholfen, bestimmte Abläufe und Produktionsgenesen besser zu verstehen. Außerdem war Chris Ware sehr unterstützend, was die Einholung der Bildrechte bei ihm anbelangt – für Aufsätze und nicht zuletzt für die Publikation der Dissertation beim Reimer-Verlag. Für letzteres hat er mir zudem die Druckdateien aus seinem Comic-Schaffen für meine insgesamt knapp 30 Abbildungen aus seinem Archiv rausgesucht. Bessere Bildvorlagen konnte ich also gar nicht kriegen. Das hat mir ermöglicht, die Doppelseiten, auf die ich mich beziehe, tatsächlich so großformatig abzubilden, dass sie wieder eine Doppelseite mit Falz in der Mitte ergeben. Das war mir sehr wichtig, weil ich meinen Leser*innen so direkt auch einige Aspekte der Handhabung zeigen und zugänglich machen kann.

Sehr schön ist auch, dass ich von ihm ein Foto des Gemäldes Crying Bee (1996) von Bruce Linn erhalten habe. Chris Ware sagt selbst, dass die Gestaltung von Branford the Bee darauf zurückgeht. Es befindet sich in seinem Besitz, sonst gibt es nur eine kleine Abbildung in recht geringer Auflösung auf der Webseite des Künstlers. Das war dann noch das Sahnehäubchen für mein Buch, dass ich dieses Gemälde integrieren konnte. Und letzter Punkt: Das Covermotiv meines Buches geht auf einen Vorschlag von ihm zurück. Und er hat mir dankenswerterweise erlaubt, es so abzuändern, dass es mit dem Layout der Reihe Bild+Bild passt, in der mein Buch erschienen ist.

Eine der angesprochenen Doppelseiten. ©Foto: Nina Eckhoff-Heindl
Hat er auf Dein Buch reagiert – nach der Veröffentlichung?

Wie die Aufzählung schon zeigt, war er ja immer wieder auch an Zwischenschritten beteiligt, hat mir Dateien zur Verfügung gestellt usw. Als das Buch nun publiziert war, habe ich es ihm auch zum Dank zugeschickt und eine sehr nette und freudige Antwort darauf erhalten.

Bleibst Du dem Genre treu?

Einmal Comicforschung, immer Comicforschung 😉 Also ja: Die Comicforschung lässt mich so schnell nicht mehr los. Es gibt noch so viel, was ich gerne in Hinsicht auf Handhabung und eine kunstwissenschaftliche Perspektive auf Comics untersuchen möchte. Dennoch ist es im universitären Kontext (zumindest im deutschsprachigen Raum) notwendig, sich nach der Dissertation neue Forschungsfelder zu erschließen. Für mich heißt das, dass mein Postdoc-Projekt sich um Körpernormen ausgehend von der Thematisierung von Behinderung drehen wird und dies in historischer Perspektive erschließt. Dieses Thema hat sich im Grunde auch aus der Beschäftigung mit Building Stories und seiner Hauptfigur, der namenlosen Protagonistin mit Beinprothese, entwickelt.

Und auch in diesem Projekt werden Comics eine Rolle spielen – ob nun in Frühformen von Karikatur und Zeitungsstrip oder in zeitgenössischen Publikationen. Beispielsweise werde ich Bill Griffith‘ Figur Zippy the Pinhead näher beleuchten, die 1971 zum ersten Mal in einem Underground-Comicstrip auftauchte. Das Aussehen dieses Comic-Charakters bezieht sich auf den Freakshow-Darsteller Schlitzie the Pinhead, dem Griffith 2019 eine ausführliche Comic-Biographie gewidmet hat. Mich interessiert hier insbesondere, welche Bewertungen mit der Darstellung von Zippy verbunden sind. Und wie dies wiederum mit den Inszenierungsstrategien von Freakshows einhergeht, die im 19. Jahrhundert populär wurden und in den USA weit ins 20. Jahrhundert hinein bestanden.

Gibt es eine neue Publikation, an der Du bereits arbeiten?

Neben dem besagten neuen Projekt, dessen Forschungsergebnisse in einem Buch münden werden, beschäftige ich mich derzeit vor allem in wissenschaftlichen Aufsätzen mit Strängen aus der Dissertation, die ich gerne noch weiterverfolgen wollte, die aber den Rahmen gesprengt hätten. Demnächst erscheint zum Beispiel ein Aufsatz zu Fenstern und Lichteinfall in Building Stories, in dem ich vertiefen kann, wie im gebauten Umraum das Thema des Erinnerns aufgerufen wird.

Die Kunsthistorikerin Nina Eckhoff-Heindl. ©Foto: Philip Lehmann

Hier geht es zur Homepage von Nina Eckhoff-Heindl

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert