Comic-Journalismus

Am 20. Januar 2024 fand in München der Kongress Establishing Shot 2 statt. Veranstaltet von der Initiative Comics in Bayern. Eigentlich hätte ich dort einen Vortrag über Comic-Journalismus halten sollen. Doch leider hat mir ein blödes Virus einen Strich durch die Rechnung gemacht. Stattdessen gibt es mein Manuskript nun hier und den Vortrag als „Wohnzimmer“-Aufzeichnung demnächst auf dem Youtube-Kanal von Comics in Bayern

Um eins vorab zu sagen: Es geht hier nicht um Tim, den rasenden Reporter, oder um Clark Kent beim Daily Planet. Es geht auch nicht um Journalismus über Comics, in Fachzeitschriften wie Alfonz oder Reddition oder auch für tagesschau.de oder die Tagesthemen. Es geht um Comic als Form des Journalismus – als Möglichkeit, journalistische Themen auf eine andere Weise umzusetzen. In Comic-Form eben. Es geht dahinter um die Frage: Eignen sich Comics als journalistisches Medium?

Was ist Comic-Journalismus überhaupt?

Man kann darüber hinaus fragen: Wie weit kann Comic-Journalismus gehen? Und wie erfolgreich und wirksam sind solche Comics? Kommt es in diesem Bereich zu einem Perspektivenaustausch von Comicschaffenden und Journalisten? Oder handelt es sich hier lediglich um die Nutzung eines alternativen Mediums? Vielleicht auch um eine völlig neue Form? Und: Welche Kriterien müssen erfüllt sein, damit Comic-Dokumentationen und -Reportagen funktionieren? Was heißt das überhaupt?

Um Journalismus über Comics wie in Alfonz oder der Reddition geht es nicht.
©Foto: Alex Jakubowski

Auch wenn ich denke, dass viele, die den Text lesen, Ahnung von Comics haben, so möchte ich dennoch einem weit verbreiteten Irrglauben entgegentreten. Comics sind nicht immer komisch. Und Comics sind bei weitem nicht nur für Kinder.

Denn, auch wenn ich seit fast 20 Jahren über Comics berichte, werden mir immer wieder diese Vorhaltungen gemacht. Und weiß Gott nicht nur von alten Kollegen. Im Gegenteil, manchmal habe ich den Eindruck, als hätten vor allem die Jüngeren Vorbehalte gegenüber Comics. Dabei sind diese völlig unbegründet – wir alle wissen das – und noch viel mehr: Sie sind falsch. Nicht zuletzt das relativ junge Genre des Comic-Journalismus lehrt uns eines Besseren.

Zum Beginn des Vortrags aber will ich kurz darauf eingehen, was unter Comic-Journalismus eigentlich genau verstanden werden kann. Bevor ich dann anhand einiger Beispiele zeigen möchte, welche unterschiedliche Möglichkeiten es beim Thema Comic-Journalismus gibt. Und meine Auswahl wird deutlich machen, dass ich den Begriff Comic-Journalismus durchaus weiter fasse, ihn nicht nur auf den Bereich der Comic-Reportage beziehen möchte – wie es an manchen Stellen getan wird.

Auszug aus Wikipedia. Stand Februar 2024.

Aber starten wir bei der Recherche in Sachen Comic-Journalismus einfach mal mit einer simplen Google-Suche. Schnell landen wir da bei Wikipedia – im Übrigen einer Quelle, die ich in meinem journalistischen Alltag äußerst selten zu Rate ziehe. Aber hier lasse ich sie einfach mal gelten. Denn meine Beschäftigung mit dem Thema hat gezeigt, dass dort die wesentlichen Definitionsmerkmale durchaus aufgelistet sind.

Welche Kriterien für Comic-Journalismus gibt es?

Also Zitat Wikipedia: „Der Comic-Journalismus setzt Comics zur Darstellung von Ereignissen oder Sachverhalten ein und greift damit auf eine populäre Darstellungsform zurück. Comic-Journalismus ist ein journalistisches Genre zwischen Bild und Text. Geschichten, meist Reportagen, werden dabei mit Bildern und meist wenigen Worten erzählt. Drei Merkmale sind dem Comic-Journalismus nach Nyberg eigen: Ernsthaftigkeit, Nonfiktionalität und die Verarbeitung aktueller Ereignisse. Das zentrale Kriterium ist dabei die Nichtfiktionalität: „Wie jede andere Form von Journalismus basiert auch Comic-Journalismus auf Fakten und Recherchen.“ Soweit die Definition bei Wikipedia. Nochmals kurz zusammengefasst: Bei Comic-Journalismus reden wir über drei Kriterien: Ernsthaftigkeit, Nonfiktionalität und die Verarbeitung aktueller Ereignisse.

Der zitierte Aufsatz von Florian Hohmann und Filiz Erkal ©Hohmann/Erkal

Hohmann und Erkal sprechen in einem Artikel, den sie dankenswerterweise für das Deutsche Journalisten Kolleg verfasst haben, allerdings lieber von Relevanz als von Aktualität (dem dritten aufgeführten Kriterium) – denn die Produktionsbedingungen des Comics legen ja nahe, dass Aktualität relativ gemeint sein muss. Bei einem Herstellungsprozess, der oft mehrere Jahre in Anspruch nimmt, ist das nur mehr als verständlich.

Die Erweiterung der Definition um den Punkt der Relevanz öffnet Comic-Journalismus gegenüber einer Vielzahl von Themen. Und das ist gut so, denn grundsätzlich muss man ja die Frage diskutieren, inwiefern kann ein Comic überhaupt aktuelle Ereignisse so zeitnah aufgreifen, wie es herkömmlicher Journalismus auch tut

Sprechen wir künftig aber von dem Kriterium der Relevanz, wie es Hohmann und Erkel tun, dann können durchaus sogar historische Ereignisse Thema von Comic-Journalismus sein. Egal ob sie zehn, 50 oder 500 Jahre in der Vergangenheit liegen. Und dafür würde ich mich gerne explizit aussprechen. Meine Beispiele werden nachher zeigen, warum.

Wir können also neu definieren: Kriterien von Comic-Journalismus sind Nonfiktionalität, Ernsthaftigkeit und Relevanz.

Aus Sicht des schreibenden oder TV-Journalisten muss ich allerdings fragen: Was ist eigentlich mit den journalistischen Kriterien der Objektivität und der Ausgewogenheit? Die bilden sich in den bisher zugrunde gelegten Merkmalen gar nicht ab. Und was ist mit den Quellen? Werden die offengelegt?

Oder sind das alles falsche Fragen, die wir im Zusammenhang mit Comic-Journalismus gar nicht stellen sollten? Sind Objektivität und Ausgewogenheit überhaupt Maßstäbe, die wir an Comic-Journalismus anlegen wollen? Brauchen wir da die Offenlegung der Quellen überhaupt? Fragen, die man sicherlich diskutieren kann.

Klaus Schikowski: Der Comic. ©Foto: Alex Jakubowski

Wenn man sich mit dem Thema Comic-Journalismus beschäftigt, kommt man an einigen Namen nicht vorbei: Joe Sacco, Guy Delisle, Sarah Glidden – um ein paar zu erwähnen.

Klaus Schikowski, seit einigen Jahren Programmchef bei Carlsen, schreibt in seinem Buch Der Comic – Geschichte, Stile, Künstler: „Der erste, der die Form der Comic-Reportage für sich entdeckte, war Joe Sacco“.

Pionier des Comic-Journalismus

Und das hat er anhand eines Themas getan, das aktueller gar nicht sein könnten. Joe Sacco hat mit seinem Buch Palästina eine Reise in palästinensische Gebiete dokumentiert. Er tat das bereits zwischen 1993 und 1995 und hat seine Erlebnisse dann 2001 in Buchform veröffentlicht. Er ist eigentlich gelernter Journalist, hat aber irgendwann angefangen, seine Geschichte nicht „nur“ zu schreiben, sondern eben auch in Comicform umzusetzen. Weil er einfach nach einer anderen Form gesucht hat, die seinen Lesern ein für ihn wichtiges Thema auf eine andere Weise näher bringt.

Der Grundstein Saccos zum Comic-Journalismus. ©Edition Moderne

Interessanterweise hatte es die Galionsfigur des Comic-Journalismus anfangs gar nicht so leicht, mit seinem Werk auf eine geneigte Leserschaft zu treffen, wie es Deutschlandfunk Kultur vor einigen Jahren zusammengefasst hat:

„Saccos Erfolg als Comic-Journalist begann Anfang der Neunzigerjahre mit Palästina, einer Sammlung gezeichneter Reportagen über den Nahostkonflikt, basierend auf Gesprächen mit Palästinensern. Höchstspannend würde man meinen, nur leider interessierte das zu der Zeit noch kaum jemanden. „Palästina besteht aus neun einzelnen Kapiteln, und jedes Kapitel verkaufte sich schlechter als das vorangehende. Am Ende verkauften sie weniger als 2000 Kopien in den ganzen Vereinigten Staaten. Das war ziemlich schlimm.“

Comic-Journalismus muss sich erst durchsetzen

Irgendwann aber wendete sich das Blatt. „Das änderte sich als der Mainstream auf diese Art von Comics aufmerksam wurde. Die ‚New York Times‘ schrieb eine lobende Rezension und alle zogen nach, wie immer, wenn die ‚New York Times‘ etwas schreibt.“ Spätestens, als Sacco kurze Zeit später auch noch den renommierten American Book Award gewann, war die Botschaft auch im Rest der Welt angekommen: Der Comic hatte es in den Journalismus geschafft. Oder umgekehrt, je nach Sichtweise.

Im Comic Palästina reist er also durch die palästinensischen Gebiete im Nahen Osten, zeichnet sich auch selbst, wie er durch das Westjordanland fährt, Menschen trifft, mit ihnen redet. Er interviewt sie extra für das Buch. Taucht immer wieder als Figur darin auf. Es ist ein Stilmittel, das später auch viele andere Zeichner in ihren Comic-Reportagen nutzen werden. Später hat er auch Comics über Bosnien, Sarajewo oder den Gaza-Streifen veröffentlicht. Die auch mit einigen Preise ausgezeichnet wurden.

Seitdem gilt Joe Sacco als bedeutendes Beispiel für die Comic-Reportage, einem Genre des Comic-Journalismus, denn er orientiert sich an den Kriterien Ehrlichkeit und Transparenz. Er dokumentiert geführte Recherchegespräche, er kümmert sich um relevante Themen, wie den Nahost-Konflikt, er dichtet nichts hinzu und er nutzt real Erlebtes. Er bedient also alle drei Kriterien, die wir oben definiert haben. Nochmal: Ernsthaftigkeit, Nonfiktionalität und Relevanz.

Sacco zeichnet sich selbst im Comic. ©Edition Moderne

Allerdings: Der Spiegel beschreibt den zeichnenden Journalisten folgendermaßen: „Schon während seines Journalismus-Studiums, so erzählt er gern, habe ihn die Vorstellung der „Objektivität“ abgestoßen. Seine Arbeit hat andere Vorbilder: den sogenannten „New Journalism“ mit seiner stark subjektiven Färbung und die „Alternativmedien“ mit ihrem Anspruch, unterdrückte Fakten, verschwiegene Stimmen hörbar zu machen, ohne sich nennenswert um Ausgeglichenheit zu kümmern – die offizielle Version kenne man doch eh zur Genüge.“

Und auch die Neue Züricher Zeitung schreibt folgendes über Sacco: „Als journalistisch objektiv will er seine Comic-Reportagen aber nicht verstanden wissen: „Ich glaube nicht an die Objektivität, wie sie in amerikanischen Journalismus-Schulen gelehrt wird – ich glaube an Fairness. Wenn Sie Sachen sehen, die Ihren Überzeugungen widersprechen, dann müssen Sie sie zeigen.“

Kritik am Comic-Journalismus

Und weiter: „In allen Reportagen ist es mir wichtig, dass der Leser versteht, wie ich arbeite, wie ich an meine Informationen komme und damit umgehe, wie ich gewisse Anekdoten auswähle, andere verwerfe, wie ich die Glaubwürdigkeit meiner Informanten überprüfe und einschätze usw. Der Leser soll aber auch verstehen, dass die Widersprüche die Wahrheit der Geschichte an sich nicht infrage stellen.“

Da er nicht an diese Objektivität glaubt, wie er selbst sagt, hat er allerdings oft auch nur eine einseitige Sicht der Dinge, die er schildert. Ausgewogenheit, wie ich sie unter Journalismus verstehe, zählt nicht zu seinen maßgeblichen Kriterien. Aber das gibt er ja auch gar nicht vor.

Kann Sacco dann aber zu Vertretern eines Comic-Journalismus gezählt werden? Es ist ja gerade Teil seiner Erzählung, subjektiv zu bleiben. Und damit eben nicht „herkömmlichen Journalismus“ zu betreiben. Oder haben nur wir in Deutschland ein Problem damit? Sollten wir uns frei machen von Kriterien, die für Journalismus alter Schule gelten?

Müssen wir umdenken?

Ist Subjektivität nicht gerade ein Merkmal eines Autorencomics? Auch einer Comic-Reportage? Und was ist, wenn dem Autor selbst das Kriterium der Objektivität gar nicht wichtig ist? Er macht das ja transparent, in jedem Interview, das er zu seinen Büchern gibt.

Klaus Schikowski schreibt daher sicher nicht zufällig: „Ihre Verwandtschaft zum essayistischen Erzählen setzt die Comic-Reportage in ein Spannungsfeld zwischen Sach- und Dokumentarcomics und autobiografischem Comic. Im Übrigen gibt es dieses Spannungsfeld nicht nur im Comic. Nur im etablierten, herkömmlichen Journalismus kennen wir das schon länger. Schon in den 1960er Jahren hat der Journalist und Schriftsteller Tom Wolfe höchst subjektive Reportagen geschrieben, die wir seitdem unter dem sogenannten New Journalism kennen und akzeptieren.

Schikowski führt mit dem Blick auf Comic-Reportagen weiter aus, es habe sich inzwischen eine Mischform gebildet, zu der etwa Sarah Gliddens Comic Israel verstehen in 60 Tagen gehört. Oder eben auch Guy Deslisle, den Klaus Schikowski als ungekrönten Meister der humorvoll-intelligenten Reiseberichte bezeichnet. Und der mit Büchern wie Shenzen, aus der chinesischen Sonderwirtschaftszone oder aus der nordkoreanischen Hautstadt Pjönjang eben, Beobachtungen liefert, die nur schwer mit einem anderen Medium, als dem Comic transportiert werden könnten.

Gliddens Israel verstehen in 60 Tagen oder weniger. ©Foto: Alex Jakubowski

Womit wir eben einen genaueren Blick auf jenen Guy Delisle werfen können. Bei seinen ersten Büchern hat der Franzose seine Frau begleitet, die für eine Entwicklungshilfeorganisation arbeitet. Später folgten die Aufzeichnungen aus Birma und dann die Aufzeichnungen aus Jerusalem. Wie auch Joe Sacco zeichnet er sich selbst im Comic. Nimmt den Leser mit auf Beobachtungsreise. Auch er erfüllt die wesentlichen Kriterien des Comic-Journalismus: Nonfiktionalität, Ernsthaftigkeit und Relevanz.

2017 hat er dann zum ersten Mal eine Geschichte gezeichnet, die er nicht selbst erlebt hat, die aber wieder aus seinem Umfeld heraus entstanden ist. Geisel heißt das Buch, in dem er von Christoph André erzählt, einem Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen, der 111 Tage Gefangener tschetschenischer Separatisten war.

Zum Erscheinen des Buches habe ich Guy Delisle damals getroffen und einen Beitrags fürs ARD-Nachtmagazin gemacht. Und darin gibt er uns nicht nur Einblicke in das Thema, sondern auch in sein Selbstverständnis als Comic-Macher.

Das Nachtmagazin zu Guy Delisles Comic Geisel.

Ich zitiere aus dem Beitrag im Nachtmagazin: „Delisle sieht sich selbst NICHT als Comic-Journalisten, eher als dokumentarischen Zeichner, der wiedergibt, was er selbst oder andere erleben.“ Ähnlich wie Joe Sacco also will er gar nicht Comic-Journalist sein. Aber ist ein Journalist nicht auch in gewisser Weise Dokumentarist? Müssen wir hier überhaupt eine Trennlinie ziehen?

Wie sehen sich die Zeichner selbst?

Delisle hat sich bei Geisel auf die Schilderungen seiner Hauptfigur verlassen. Auch er lässt die Gegenseite nicht zu Wort kommen. Muss er aber für seine Geschichte auch gar nicht. Es geht ihm ja gar nicht darum, ausgewogen zu berichten, abzuwägen oder inhaltliche Fehler aufzudecken. Es geht ihm um die Darstellung dieser so beklemmenden Situation der Geiselhaft. Dafür hat er ausführliche Interviews geführt, und zwar mit der betroffenen Person, Christophe Andre.

Geisel – wie sieht es in ihr selbst aus? ©Foto: Alex Jakubowski

Im Buch selbst geht es ihm darum zu zeigen, welche Auswirkungen der Freiheitsentzug auf einen haben kann, wie er mir vor ein paar Jahren für ein Alfonz-Interview erzählt hat. Zitat: „Ich wollte, dass man die Zeit spürt. (…) Ich wollte, dass der Leser in den Kopf des Gefangenen gucken kann.“

Und auch wenn Guy Delisle, ähnlich wie Joe Sacco, immer in Bezug zu Comic-Journalismus erwähnt wird, sieht er sich selbst nicht als Journalisten. „Ich fühle mich“, so sagt er, „als würde ich an meine Freunde oder meine Familie eine 300 Seiten lange Postkarte schreiben. Aber eben eine Postkarte, die jeder lesen sollte.“ So viel zu seinem Selbstverständnis.

Zeichner zeichnen bewusst

Die Kritik, die am Comic-Journalismus immer wieder geäußert wird, ist genau das, was Delisle oder Sacco gerade so betonen. Subjektivität. Weil Zeichner die Bilder zeichnen, stecken sie ja gerade ihre Perspektiven, aber auch ihre Haltung in die einzelnen Panel.

Lilian Pithan, Kuratorin einer Ausstellung zu Comic-Journalismus vor ein paar Jahren in Berlin meinte: „Im Gegensatz zu Fotografen reflektierten die Comicjournalisten oft ihre Rolle aktiv und machten diese in den Comics transparent, indem sie sich selbst mit zeichneten.“ Manchmal würden verschiedene Informationsebenen auch durch unterschiedliche Farben markiert, so dass der Leser genau nachvollziehen könne, welche Informationen auf verifizierten Fakten beruhen, welche nicht.

Pithan resümiert: Geschichten über Flucht, Krieg oder abgeschlossene Kriminalfälle – und dazu kann man ja auch Geisel von Guy Delisle zählen – eigneten sich besonders gut für Comic-Journalismus, denn der brauche Zeit. „Was kein schlechter Punkt ist, weil dem Journalismus heutzutage oft vorgeworfen wird, dass er zu schnell sei. Comic-Journalismus wäre da ein Gegengewicht“, so Lilian Pithan. Dennoch werde Comic-Journalismus in Deutschland kritisch beäugt, meint die Kuratorin.

Den Konflikt, den der klassische Journalismus mit dem Comic-Journalismus hat, lösen die Zeichner durch die Betonung der subjektiven Darstellung auf, meint Pithan. Die sie dann aber eben auch ganz bewusst betonen, wie wir am Beispiel Sacco und Delisle gesehen haben. Aber es sieht fast so aus, als verstünde jeder Comic-Schaffende unter Comic-Journalismus etwas anderes. Comic-Reportage, dokumentarisches Erzählen, grafische Reportage. All diese Begriffe lassen sich unter diesem Oberbegriff finden.

Comic-Journalismus über Journalismus. ©Foto: Alex Jakubowski

Was Sarah Glidden unter Comic-Journalismus versteht, können wir uns jetzt ansehen. Die schon mehrfach erwähnte Amerikanerin hat sich in ihren Comic-Reportagen aus Syrien, dem Irak und der Türkei, die in Deutschland unter dem Titel Im Schatten des Krieges erschienen sind, auf eine Meta-Ebene begeben. Man könnte ja erwarten, dass sie in diesen Gebieten Geschichten erzählt von Flüchtlingen, Verfolgung, Leid und Krieg. Aber im Gegenteil, sie ist der Frage nachgegangen, was Journalismus eigentlich ist. Dafür hat sie befreundete Journalisten begleitet und deren Arbeit dokumentiert. Comic-Journalismus über Journalismus also.

Comic-Journalismus als neue Möglichkeit

Die Zeichnerin nennt Joe Sacco als ihr großes Vorbild. Im Comic selbst ist sie beobachtende Randfigur, die sich mit ihrer eigenen Meinung zurückhält. Im Alfonz-Interview erklärt sie: „Ich muss meine Meinung im Buch ja auch nicht zeigen, die hat im Journalismus keinen Platz – auch nicht im Comic-Journalismus. Wenn ich jemanden erreichen will mit meinem Buch, dann muss ich ihm ermöglichen, sich selbst ein Bild zu machen.“

Und im Interview mit Zeit Online hat sie damals erklärt: Comics seien eine Möglichkeit, Menschen, die sich vom Weltgeschehen lieber fernhalten, die der depressing news müde seien, dazu zu bringen, sich mit Themen wie Flucht und Migration auseinanderzusetzen. Dass sie mit Fiktion, Kindheit und weniger komplexer Unterhaltung assoziiert seien, könne so zum Vorteil werden.

Und weiter: Als Vertreter einer neuen journalistischen Form müssten Comicjournalisten doppelt so hart arbeiten, sagt sie, „to make sure that it has integrity“, um die Integrität sicherzustellen. Die Skepsis gegenüber Comicjournalismus sei groß, auch in den USA, wo er schon viel verbreiteter sei als in Deutschland. Dabei würden die gleichen Qualitätsstandards gelten wie für alle anderen Bereiche journalistischer Arbeit auch. Manche ihrer Kollegen, berichtet Glidden, setzten sich sogar für die Verwendung von Fußnoten am Bildrand ein.

Fussnoten und Quellen?

Manch andere Kollegen verwenden auch ausführliche Anhänge, in denen sie dokumentieren, auf welchen Quellen ihre Arbeiten beruhen. Das können Fotos, Protokolle oder Notizen sein. All das eben, was der Comic-Journalist verwendet hat, um seine Geschichte zu erstellen und zu belegen.

Bisher haben wir ausschließlich internationale Comic-Zeichner betrachtet, die allgemein gesehen unter Comic-Journalismus subsumiert werden. Aber auch in Deutschland gibt es seit ein paar Jahren Versuche, auf diesem Feld aktiv zu sein.

Weisse Wölfe. ©Correctiv

An erster Stelle dürfte hier der Comic Weiße Wölfe genannt werden. Ein investigatives Projekt des Recherche-Büros Correctiv. Dessen Gründer, der Journalist David Schraven, hat hier gemeinsam mit Zeichner Jan Feindt 2015 einen Comic über rechten Terror am Beispiel des NSU gemacht. Wie bei Sacco, Delisle und Glidden tritt Autor Schraven als Comicfigur in der Geschichte auf. Gezeigt wird sein Rechercheweg. Im Deutschlandfunk-Interview erläutert er, warum er sich für die Veröffentlichung seiner Recherche als Comic entschieden hat: „Als ich die Geschichte recherchiert hatte, hab ich mich gefragt: Moment, wen erreiche ich? Wie erreiche ich die Leute? Und dann ist die Idee geboren worden, eine Reportage zu machen. Also eine grafische Reportage, kein klassisches Buch, sondern eben einen Comic.“

Neue Zielgruppe? Neue Darstellungsform.

Schraven hat nach Weisse Wölfe noch einige weitere investigative Comics veröffentlicht: Unter Krähen – aus dem Inneren der Republik etwa. Oder auch Alcamo – Eine grafische Reportage über das Leben des Mafia-Killers Giovanni R. Sie besetzen mit ihren Büchern die Schnittstelle zwischen Neunter Kunst und Journalismus. Immer noch „ein Pioniergebiet“, wie der bekennende Comicfan Schraven meint. Aber eine Möglichkeit, „eine Leserschaft zu generieren, die sich durch konventionelle Formen journalistischer Berichterstatung nicht besonders angesprochen fühlt“, so der Correctiv-Gründer.

Auch eine Form des Comic-Journalismus. ©CrossCult

In jüngster Zeit sind einige Comics entstanden, die sich mit dem Thema Flüchtlinge beschäftigen. Allein in der Fremde etwa, erzählt drei wahre Flucht-Geschichten. Erzählt von drei unterschiedlichen Zeichnerin in einem Band. Dann gibt es 9.603 Kilometer – zwei Kinder auf der Flucht. Auch hier geht es um Afghanistan. Um Kinder, die von dort nach England geflohen sind. Der Comic begründet sich auf ausführlichen Gesprächen mit den Kindern und anschließender Recherche.

Schon 2019 haben Jérôme Tubiana und Alexandre Franc „Die wahre Geschichte des Mohammed el Gharani“ erzählt. Ihr Comic heißt Guantanamo Kid und fusst auf Gesprächen und Protokollen, die sie auszugsweise im Anhang des Buches veröffentlicht haben. Es geht um den fast 14-jährigen Mohammed, der kurz nach dem 11. September 2001 verhaftet und nach Guantanamo ins Gefängnis gebracht wurde. Es dauerte acht Jahre, bis es zu einem Gerichtsverfahren kam und er seine Unschuld beweisen konnte. Die Story selbst hatte Jérôme Tubiana als Journalist in einem englischen und einem französischen Magazin veröffentlicht, bevor er gemeinsam mit Zeichner Alexandre Franc den Stoff zum Comic machte.

Neben der „natürlich“ sehr subjektiv erzählten Geschichte, die ausschließlich aus der Perspektive von Mohammed erzählt wird, liefert das Buch im Anhang Auszüge aus Protokollen und Gerichtsurteilen. Es enthält aber auch einen langen Dialog zwischen dem Autoren des Comics und dessen Hauptfigur – in dem es um das Leben nach Guantanamo geht.

Erlebnisse eines Guantanamo-Häftlings. ©Foto Alex Jakubowski

Allein durch die Herangehensweise dürften wir es auch hier mit einem weniger objektiven Buch zu tun haben, das ich auch gerne der Kategorie des New Journalism zurechnen möchte. Unverkennbar ergreifen die Autoren Partei – belegen aber alle unabhängigen Quellen – die allerdings  angesichts der schwierigen Recherchelage einigermaßen dürftig ausfallen.

Kommen wir jetzt zu einem anderen Genre des Comic-Journalismus, nicht der Reportage sondern der Comic-Dokumentation. Vorstellen möchte ich hier ein Buch, das sich mit dem ersten deutschen Parlament in der Frankfurter Paulskirche beschäftigt hat: Skizzen einer Revolution von Christopher Tauber und Annelie Wagner. Es ist bereits das dritte Buch, das die beiden zu historischen Themen gemacht haben und zwar im Auftrag des Historischen Museums in Frankfurt am Main.

Und um einen Eindruck von Buch und Autoren zu gewinnen auch hier ein kurzer Einspielfilm, den ich seinerzeit fürs ARD-Nachtmagazin produziert habe.

Hessenschau-Beitrag zum Comic von Christopher Tauber und Annelie Wagner.

Recherche vor Ort, Arbeit mit historischen Quellen. Auch hier zeigt sich: Das journalistische Arbeiten war hier Grundlage für einen Comic, der sich mit einem Thema beschäftigt, das mittlerweile mehr als 175 Jahre alt ist. Anders als die Vertreter der Comic-Reportage hat das Autorenteam darauf verzichtet, sich selbst in das Buch hineinzuzeichnen. Stattdessen haben sie eine Protagonistin gewählt, die so durchaus zur Zeit der Revolution gelebt haben könnte.

Auch historische Themen sind möglich

Wenn wir uns in Erinnerung rufen, unsere grundlegenden Kriterien für Comic-Journalismus: Relevanz, Ernsthaftigkeit und Nichtfiktionalität – dann stellen wir hier fest: Gerade diesen Punkt können wir als weichen Faktor bei der Umsetzung des Themas ansehen. Das Hauptthema an sich ist ja historisch belegt. Die Versammlung in der Frankfurter Paulskirche hat es gegeben. Aber, ob die handlungsleitende Person, das Mädchen Vera, wirklich historisch nachweisbar ist – das spielt für das Buch keine Rolle, sondern dient der besseren Erreichbarkeit der Zielgruppe. Ist sozusagen der literarische Kniff.

Der im Film besprochene Comic. ©Foto Alex Jakubowski

Am Ende des Buches liefern die Autoren Hintergrundinfos. Ein Glossar, in dem die wichtigsten Begriffe geklärt werden, ein Modell der Frankfurter Paulskirche oder auch ein Regenschirm, der in den Wirren der Revolution eine besondere Rolle spielte. Wir erinnern uns: Sarah Glidden hatte erwähnt, dass manche Autoren für Fußnoten seien in ihren Comic-Reportagen. Hier finden wir eben einen ausführlichen Anhang.

Wir könnten im Folgenden noch viele, viele Beispiele finden für Comic-Dokumentationen oder Comic-Reportagen. Das Thema scheint in den vergangenen Jahren an Gewicht zugenommen zu haben – die Zahl der Bücher, die zuletzt erschienen sind, die ich persönlich zu dem Genre zählen würde, ist deutlich gestiegen.

Sicherlich hat das auch damit zu tun, dass Comics ernster genommen werden, sogar im Feuilleton besprochen werden, oder in den Tagesthemen – dass auch Verlage Comics im Programm haben, die nicht zu den bekannten Comic-Verlagen zählen, wie Carlsen, Egmont oder Panini. Auch einige etablierte Literaturverlage führen Comics mittlerweile im Programm.

Comic-Journalismus gewinnt an Bedeutung

Welche Kriterien am Ende erfüllt sein müssen, damit Comic-Reportagen und Dokumentationen funktionieren, kann am Ende nur der Leser beantworten. Welche Kriterien erfüllt sein müssen, damit wir Comics zum Comic-Journalismus zählen, habe ich eingangs ausgeführt. Und ich gehe auch davon aus, dass wir bei Comics andere Maßstäbe anlegen, als an ARD, BBC oder die FAZ.

In einem Artikel für die TAZ über Comic-Journalismus wurde geschrieben: „Für den Comicjournalismus wäre es (…) wichtig, dass ausgebildete Journalisten mit Zeichnern gemeinsam unterwegs sind. Denn Comicjournalismus muss nicht einfach nur wahre Ereignisse nacherzählen, sondern auch journalistische Kriterien erfüllen: kritisches Nachfragen, unparteiische Recherche und den Faktencheck. Nur wenn comicjournalistische Teams diese Kriterien ernst nehmen, haben ihre Reportagen eine Chance, als gleichwertige Beiträge in deutschen Medien zu erscheinen.“ Zitat Ende.

Eine Bereicherung der Neunten Kunst

Am Ende zählt in meinen Augen aber das, was die Autoren und Zeichner beabsichtigen. Nicht unbedingt das, welche Ansprüche wir an Comics anlegen, die sich im Feld des Comic-Journalismus bewegen.

Abschließend können wir aber sicherlich festhalten: Unter Comic-Journalismus verstehen wir eine faktenorientierte Berichterstattung in einem künstlerisch-subjektiven Medium. Neunte Kunst und Journalismus zu kombinieren, muss kein Widerspruch sein.

Dass wir in Deutschland dem Thema Comic-Journalismus vielleicht reservierter gegenüberstehen, als in den USA oder in Frankreich, hat einen Grund. Möglicherweise stehen wir hier neuen Formen eines Genres schon immer erst einmal skeptisch gegenüber. So wie sich die hohe Literatur von der Unterhaltungsliteratur abgrenzt, so scheint der seriöse Journalismus sich vom Comic-Journalismus abzugrenzen.

Es gibt ihn aber – und er wird uns in den kommenden Jahren sicherlich weiter Bücher bescheren, die uns nicht nur informieren, sondern auch auf eine andere Weise unterhalten, als es Sachbücher oder Tageszeitungen tun.

Hier gehts zu: Comic in Bayern

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