„Bei mir zuhause“ – 600 Seiten Comic aus Darmstadt

Ein Comic mit mehr als 600 Seiten. Nein, nicht Habibi von Craig Thompson oder Berlin von Jason Lutes. Es geht um „Bei mir zuhause“, das Buch der Zeichnerin Paulina Stulin aus Darmstadt. Fünf Jahre lang hat die 35-jährige daran gearbeitet und die Graphic Novel zu Papier gebracht. Jetzt ist das Buch beim Jaja-Verlag erschienen. Ich habe Paulina in ihrer Dachgeschosswohnung besucht. Eine Ateliergeschichte irgendwo zwischen Wahrheit und Fiktion. 

Am Tablet entstanden und doch ganz malerisch. Paulina bei der Arbeit. ©Alex Jakubowski

Es sind Episoden aus ihrem Leben, die Paulina uns erzählt. Es geht um die Liebe, das Leben, das Reisen. Ums Suchen und Ankommen, um Spass und Trauer. Einfach um das Leben Anfang 30, zu Beginn des aktuellen Jahrtausends. Es geht um ein Lebensgefühl – vielleicht einer Generation. 

Keine politische Botschaft

„Ich wollte viele Stimmungen transportieren“, sagt Paulina. „Zeigen, wie es ist, verliebt zu sein, Sonntags morgens verkatert aufzuwachen. Sich auf den Urlaub mit einer Freundin zu freuen. Eigentlich wollte ich einen Blumenstrauß an Gefühlen vermitteln.“

Bei mir zuhause, von Paulina Stulin ©2020 Jaja-Verlag

Paulina zeichnet Paulina. Es ist dabei nicht klar, wieviel biografisch korrekt ist, was im Sinne der Geschichte erfunden wurde. Die Zeichnerin lässt das bewusst im Unklaren, um drastisch werden zu können. Sich künstlerisch radikal ausdrücken zu können. „Ich wollte auf die Pauke hauen, künstlerisch unverklemmt sein. Es ist eine Mutprobe, der Kampf mit meiner Scham gehört für mich dazu“, sagt die Zeichnerin Paulina.

Radikaler Ausdruck

Es wird gekokst und getrunken. Paulina probiert sich auch sexuell aus. Die junge Frau ist oft unzufrieden mit sich und ihrem Körper. Rebelliert an anderer Stelle gegen das vorherrschende Schönheitsbild und lässt sich die Achselhaare wachsen.  Das steht nicht immer im Zusammenhang miteinander und wirft somit einen Blick in das Hin und Her des Alltags. 

Einblicke in das Seelenleben ©2020 Jaja-Verlag

Paulina diskutiert gerne. Über Feminismus und Politik, über Ideale und Kunst. Seiten mit intensiven Dialogen wechseln sich ab mit Ruhephasen. Auf den Sprechblasen-Overkill  hier folgen oft Episoden, die völlig ohne Text auskommen dort. So kann sich der Leser erholen, so wie auch die Hauptfigur selbst – und vielleicht auch die Zeichnerin. 

Das Leben im Erzählfluss

„Es passiert eigentlich nicht viel“, meint Paulina. „Ich erzähle die Welt aus meiner subjektiven Perspektive. Meine Geschichte ist das Gegenteil eines Detektivromans, wo alles eine Bedeutung hat und aufeinander aufbaut. Es ist eine Aneinanderreihung von Details, die ineinander wirken. Aber es will nicht auf etwas hinaus, es gibt keine Moral.“

Paulina malt auch analog, auf Papier und mit Stift und Pinsel © Alex Jakubowski

Ein Leitmotiv aber gibt es. Zuhause. Was ist das eigentlich? Die heimische Wohnung oben unterm Dach? Die vertraute Runde mit Freunden? Die Familie? Paulina Stulin verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. „Meine Lieblingsinterpretation ist die des ozeanischen Gefühls. Dass man sich überall zuhause fühlt, es keine Trennung gibt zwischen mir und der Umwelt.“

„Bei mir Zuhause“? Was ist das?

Immer wieder wirft der Comic die Frage nach dem Zuhause auf, nach dem Ankommen, irgendwo und irgendwann. „Das absolute Zuhause wäre das Paradies“, meint Paulina. „Ein Ort der absoluten Geborgenheit, zu dem wir streben, aber nie hinkommen. Aber das danach Streben ist uns allen eigen.“

Ohne Dachfenster geht nichts – egal ob in der Realität oder der Fiktion. ©Alex Jakubowski

Dass Paulina Stulin am Rechner zeichnet, ist auf den ersten Blick schwer zu glauben. Wie mit dem Pinsel gemalt wirken ihre Bilder. Inspiriert von einer Künstlergruppe aus Tel Aviv und St. Petersburg. Flüchtig hingeworfen scheint manche Figur und dann doch auf vielen, vielen Seiten ausgearbeitet. 

Gemalte Freunde fürs Leben

„Ich bin ein Serienjunkie und deshalb wollte ich eine Art Serie machen, bei der man den Charakteren wirklich nahe kommt. Bei der man sie begleitet und die dann Teil des Lebens werden, so als wären sie Freunde“, so die Zeichnerin. 

Es passiert eigentlich wenig… © 2020 Jaja-Verlag

Das Buch liest sich trotz der vielen Seiten sehr rasant. Paulina steht natürlich im Mittelpunkt. Der Leser folgt ihr überall hin, lernt sie kennen, fühlt mir ihr. Die Seelenschau gelingt, ohne Voyeurismus zu bedienen. 

Eine Seelenschau – kein Voyeurismus

„Ich habe Dinge auch für das Buch miterlebt“ gibt Paulina zu. „Das hat dazu geführt, dass ich doppelt dankbar bin. Ich bin als Mensch gereift, auch an negativen Erfahrungen. Und die habe ich dann als Künstlerin verwurstet.“ Ein Glück für jeden, der das Buch in die Hand bekommt.

4 von 5 Comic-Denkblasen

Angaben zum Buch: Bei mir zuhause. Autorin/Zeichnerin: Paulina Stulin. Hardcover. Farbig, 614 Seiten. Jaja-Verlag. 35,-€

Und hier gehts zum Verlag: https://www.jajaverlag.com

Hier zu meinem TV-Beitrag über den Comic: https://www.hessenschau.de/tv-sendung/spannende-graphic-novel-aus-darmstadt-,video-133902.html

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