Antananarivo - alter Knacker on the road. Ein Comic-Highlight.

Über 70-jährige scheinen seit einiger Zeit im Trend zu sein, im francobelgischen Comic. Gemeint ist dieses Mal aber nicht die grandiose Reihe um Die alten Knacker (https://comic-denkblase.de/die-alten-knacker-jetzt-schon-ein-klassiker) sondern es geht um Sylvain Vallées neuen Comic mit dem schwer auszusprechenden Namen: Antananarivo – alter Knacker on the road, könnte man sagen. Eine liebevoll geschriebene und gezeichneten Geschichte, bei der sich Hauptfigur Amédée auf die Reise macht – zum verschollenen Sohn seines verstorbenen besten Freundes – und zu sich selbst.

Es ist diese Mimik – sensationell! @Splitter-Verlag GmbH & Co. KG, Bielefeld 2022

Der Zauber fängt schon auf dem Cover an. Zwei alte Männer, ein altes Cabriolet, eine Giraffe, ein paar Vögel am Himmel. Der eine alte Mann ruht in sich, schaut zufrieden. Er scheint ein Abenteurer zu sein, mit Trekking-Hut, Stiefeln und voluminösem Bart. Der andere schaut durch seine altmodisch wirkende Brille, trägt Trenchcoat und Krawatte – offenbar ein Büroarbeiter. Eher spießig, als der geborene Draufgänger.

Abenteurer und Spießer

Das beeindruckende an diesem Cover ist nicht das merkwürdige Ensemble an sich. Es ist der Ausdruck der Gesichter, der mich sofort in den Bann zieht. Dieses absolut zufrieden wirkende Grinsen des einen, der nachdenkliche Blick des anderen, der Raum lässt für viel Interpretationen. Ist es eine gewisse Genervtheit, die sich in der Mimik auch ausdrückt? Oder eher ein Zweifel?

Das gelungene Cover. @Splitter-Verlag GmbH & Co. KG, Bielefeld 2022

Es sind die beiden Freunde Amédée und Jo. Nachbarn seit Jahren. Befreundet. Trinkbrüder. Amédée liebt es, den Geschichten seines Freundes zu lauschen. Geschichten aus fernen Ländern, von Abenteuern und Frauen, von Drogen und Vietnamkrieg. Wenn Amédée Jos Haus verlässt, ruft dieser ihm noch zu: „Sei vorsichtig auf dem Heimweg.“ Dabei muss Amédée gerade einmal die Straße überqueren.

Realität und Traum

Nein, er ist kein Draufgänger. Er ist pensionierter Notar, hypochondrisch, verheiratet. Ein Träumer, der nur zu gerne in den Abenteuern seines Freundes Jo versinkt. Einer, der vieles glaubt, ohne es zu hinterfragen. Einer, der manches gar nicht mitbekommt, oder auch verdrängt. Wie die Tatsache, dass seine Ehefrau jahrelang ein Verhältnis mit seinem besten Freund hat.

Jos Tod ändert alles. @Splitter-Verlag GmbH & Co. KG, Bielefeld 2022

Als Jo bei der morgendlichen Gymnastik plötzlich verstirbt, ändert sich alles – für Amédée. Er will sich um den Nachlass kümmern, da kommt der Notar in ihm durch. Aber wer soll das Erbe bekommen? Gibt es überhaupt Nachkommen? Und so macht er sich auf die Suche. Fährt zu möglichen Affären, sucht den einzigen Sohn von Jo, um den dieser sich jahrzehntelang überhaupt nicht gekümmert hat.

Lügen und Affären

Je länger seine Reise dauert, desto deutlicher wird, dass Jos Leben ein Konstrukt voller Lügen war. Allein sein Geburtsort Antananarivo, die Hauptstadt von Madagaskar, scheint zu stimmen. Und je länger die Suche dauert, umso mehr erfährt Amédée über sich selbst. Sein Freund Jo fährt imaginär immer mit. Gibt Tipps, fordert ihn heraus. Lockt den Amédée aus sich heraus, von dem er selbst gar nicht wusste, dass er in ihm schlummert.

Auch nach seinem Tod ist Jo noch sehr präsent. @Splitter-Verlag GmbH & Co. KG, Bielefeld 2022

Und so ist Antananarivo eine wunderbare, liebevolle aber auch schmerzhafte Geschichte. Sie gefällt mir vor allem wegen Sylvain Vallées zauberhaftem Strich. Wegen der ausdrucksvollen Gesichter und dem Gefühl für die Details. Den Brotkrümeln auf dem Esstisch, den Pantoffeln – aber auch den Anspielungen auf Tim und Struppi oder auch den Punisher.

Antananarivo – alter Knacker on the road. Eine fantastische Entdeckung.

Aber natürlich darf das Szenario von Mark Eacersall nicht unerwähnt bleiben. Der Plot ist stimmig, die Dialoge lebensnah. Endlich mal wieder ein Comic, bei dem die Geschichte am Ende nicht enttäuscht, sondern auch noch eine kleine Überraschung parat hat. Für mich ist dieses Buch eine absolute Entdeckung. Auf jeden Fall einer der besten Comics, die ich in 2022 gelesen habe.